Drei Schritte zur Seite – oder es ist zu spät. So heisst es in den Dörfern des Hinterlands und Wiggertals, wenn der Türst heranbraust. Jahrhundertealte Sagen erzählen von unheimlichen Begegnungen, verstörenden Geräuschen und plötzlichen Krankheiten. Was weiss man heute noch davon?

Draussen tobt der Wind. Er rüttelt an Fenstern und Türen, peitscht den Regen gegen die Scheiben. Ein fernes Grollen rollt über die Hügel des Napfgebiets. In solchen Nächten, so raunen sich die Alten zu, zieht er über die Lande – der Türst, der höllische Jäger, der Meister der Toten. Wer sich ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg begibt, dem droht ein grausames Schicksal.

Die Wege des Türsts

Ein schwarzer Hund, ein geisterhafter Jäger in rotem Mantel oder ein wilder Wind, der durch die Tennen braust – je nach Dorf erzählt man sich eine andere Geschichte. Selbst der einstige Hinterländer Mundartforscher und Brauchtumskenner Josef Zihlmann bekannte damals in seinem Handbuch Luzernerischer Volksbräuche: «Über kein Sagenthema hörte ich so lebendig erzählen.» Er habe Bauern gekannt, so Zihlmann, «welche die Türstwege haargenau beschreiben konnten und dafür die Hand ins Feuer gelegt hätten». Zwischen Grossdietwil und Altbüron soll er vom Nebensbergwald über den Rotbach nach dem Riserwald unterwegs sein. In Egolzwil stürme er nördlich vom Dorf gegen den Buchwald. Zwischen Nebikon und Altishofen gehe er gegen den Flüggenwald. In Luthern lasse er sich in der Ebene des Barren hören.

Im Namen der Jäger

Manche Orte tragen den Türst heute noch im Namen: der Dürstenbach (früher Türstbach) in Hergiswil ist so ein Beispiel. «Von Kindesbeinen an erzählte man uns vom Türst, gar in der Schule hatten wir uns mit seinen Geschichten zu befassen», sagt die Hergiswilerin Anna Grüter gegenüber dem WB. Die 86-Jährige weiss noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie sie und ihre Geschwister jeweils in stürmischen Nächten kaum ein Auge zubrachten – «us Angscht, de Törscht chöim üs cho hole». Lebendig hält die Sagengestalt auch die Grossdietwiler Jagdgesellschaft Türst: Diese trägt bis heute den Titel des sagenumwobenen Jägers im Namen. Der Altbürer Fritz Grütter, 79 Jahre alt und dienstältestes Mitglied der Jagdgesellschaft, erinnert sich an den Ursprung: «Der Türst war so eine Art böser Geist, der übers Dorf hinwegfegte und nur Unheil brachte.» Genaue Geschichten dazu kenne er allerdings nicht – «da müsste man die noch Älteren fragen», sagt er und lacht.

Die Tenntore offen lassen

Vielerorts galt es als ungeschriebenes Gesetz, die Tennstore im Winter stets offen zu lassen, so erwähnen es Zihlmann und viele weitere Brauchtumsforscher. Denn sollte der Türst durch das Dorf jagen und keinen Durchgang finden, würde er in seinem Zorn das Haus und seinen Hof verwüsten. Konkret vermerkt wird die Brästenegg bei Ettiswil. «Schliesst man die Tennstore, so werden sie – man weiss nicht wie und von wem – wieder geöffnet.» Heute aber scheint dieser Glaube verschwunden. Der WB kontaktierte mehrere landwirtschaftliche Betriebe in der Gegend – doch niemand der neuen Generation an Landwirten erinnerte sich an offene Tore wegen eines Spuks. Der Türst? Nie gehört. Die alten Sagen, so scheint es, sind hier längst verstummt.

Ein Relikt aus heidnischer Zeit

Kein Wunder: Die Sagenfigur des Türst reicht tief in die vorchristliche Zeit zurück. Manche deuten ihn als eine lokale Variante des germanischen Gottes Wodan, der mit seinem wilden Heer durch die Winternächte jagt. Der Volkskundler Kurt Lussi, ehemals Mitarbeiter am Historischen Museum Luzern und ausgewiesener Experte für Volksglauben, geht noch einen Schritt weiter: «Wodan ist der Herr der Toten, er richtet über die Lebenden und die Toten. Genau das macht auch der Türst. Für mich ist er eine Urfigur – vielleicht gar der Ursprung des St. Niklaus», so Lussi im Gespräch mit dem WB. Was heute als gutmütiger «Samichlaus» durch die Stuben zieht, könnte also, wenn man Lussi folgt, in seinen Ursprüngen ein unheimlicher Totengeisterführer gewesen sein – «der rote Mantel und die schweren Stiefel deuten darauf hin». Ob sich diese Linie tatsächlich durchzieht, bleibt offen. Aber die These zeige: Die Christianisierung habe viele heidnische Figuren aufgenommen und verwandelt – der Türst sei keine Ausnahme. Der Türst, so Lussi weiter, sei dabei immer auch Ausdruck des menschlichen Versuchs, das Unerklärliche erklärbar zu machen. «Komisches Pochen in den Wänden, mitternächtliches Gerassel auf dem Dachboden, nächtliches Klopfen an Kammertüren – all das wurde über Generationen weitererzählt. Mit der Zeit wird aus dem Erlebnis eine Totensage.»

Die Warnung des Heers

«Drü Schrett rechts, gang uswägs!» ruft der Türst, wenn er mit seinem gespenstischen Heer heranbraust. Wer nicht rechtzeitig zur Seite springt, den trifft ein grausames Los. «Es waren Hunde. Es hat niemand etwas tun dürfen. Sie haben gebrüllt wie Jagdhunde, nur waren sie grösser. Es hat beim Vorbeigehen gchuutet. Dem Türst durfte niemand in den Weg laufen, sonst ging es ihm nicht gut», zitiert Josef Zihlmann etwa eine Aussage einer Gettnauerin von 1967. Und auch Alois Lütolf, Sammler alter Ur-Schweizer Sagen, berichtet: In Hergiswil liefen dem Türst eine grosse Schar kleiner Hunde voraus, einer warnte die Menschen, rechtzeitig zur Seite zu treten. Wer dies nicht tat, musste mitjagen – bis ihn der Glockenschlag erlöse. Der Türst sei also – so die Überlieferung – nicht nur an bestimmte Wege, sondern auch an Zeiten gebunden: Er könne nur von einer Bettglockenzeit zur nächsten jagen. Kurt Lussi bestätigt: «Diese Verknüpfung von Ort und Zeit ist typisch für Sagen – im Gegensatz zu Märchen, die in einer fiktiven Welt spielen, verankern Totensagen das Unheimliche an ganz bestimmten Orten.»

Gegen böse Mächte geschützt

An diesen errichtete man aus Angst vor dem Türst teilweise Bildstöcke und Kreuze. So etwa auch in Zinserswil bei Buttisholz: Dort soll einst ein Marienbild an der Wand einer Scheune angebracht worden sein – als Schutz vor dem Spuk, wie es heisst. Gemäss mündlichen Überlieferungen habe ein Bauer das Bild einmal entfernen wollen. Daraufhin soll der Türst Haus und Stall umtobt haben, unter dem Vieh brachen Seuchen aus. Erst als die Tafel wieder aufgehängt wurde, sei wieder Ruhe eingekehrt. Heute weiss man in Zinserswil kaum mehr etwas von dieser Geschichte. Ein Anwohner erinnert sich vage: Bis in die 1960er-Jahre sei tatsächlich ein Marienbild an einer alten Scheune befestigt gewesen – bis diese 1962 abbrannte. «Hat wohl nicht vor allem Unglück bewahrt», meinte er trocken. An der neuen Scheune wurde jedenfalls keines mehr angebracht.

Eine ähnliche Geschichte trug sich in der Hintergasse Altbüron zu, wo laut Kurt Lussi ein Kreuz steht – errichtet gegen den Türst. «Dort gab es zudem eine Scheune mit Schutzzeichen, unter anderem ein Pentagramm gegen böse Mächte. Ich habe noch ein Foto eines Baufragments aus dem Jahr 1654», erzählt er. Heute ist die Scheune abgerissen.

Das sagenumwobene Türstkreuz

Eine besondere Legende erzählt ein doppelbalkiges Wetterkreuz, auf Chätzigen an der höchsten Stelle des Santenbergs – es trägt die Inschrift «Hier jagte der Türst.» Früher habe man bei starken Winden gesagt: «Jetzt chond de Türst», erzählt Alois Hodel, ehemaliger Gemeindepräsident von Egolzwil. Die Menschen sahen den Türst wohl nie, hörten aber das Bellen, Wiehern, Stampfen, Heulen und Rufen seines wilden Heeres. Um dieses zu besänftigen, habe man anno dazumal das Wetterkreuz mit der eingravierten Mahnung gestellt. «Das Lothringerkreuz hatte die Aufgabe, den Türst wenn nicht im Durchlass zu hindern, so ihm doch die Kraft zum Schänden zu nehmen», sagt etwa Edy Kaufmann, dessen Haus in der Nähe des Türst-Kreuz steht. Sein Vater, so erinnert sich der 79-Jährige, habe ihm von Türst-Erlebnissen berichtet. So habe sein Grossvater in der «Martisrüti» Schnaps gebrannt. «Obwohl er jeweils am Abend das Scheunentor der Brennhütte schloss, war es morgens wieder offen. Um dem Türst ungehindert den Durchzug zu ermöglichen, wurde das Scheunentor unten gekürzt», erzählt Edy Kaufmann. «Und siehe da: Fortan blieb das Tor nachts im Schloss.» Das Türstkreuz, anno 1960 geschaffen, wurde im Jahr 2004 erneuert. Heute gehört es zum geschützten Inventar der Gemeinde – und steht sinnbildlich dafür, dass auch die alten Geschichten und Sagen nicht vergessen gehen sollen.

Gut so. Denn an den Türst mag man heute nicht mehr glauben, doch mit jeder Erzählung lebt ein Stück Heimatgeschichte weiter. Und wer weiss: Vielleicht bleibt beim nächsten Westwind doch jemand kurz stehen und lauscht dem alten Ruf in der Ferne – «Drü Schrett rechts, gang uswägs!»

Literatur

Recherchen-Gespräche

Zihlmann, Josef (1989). Volkserzählungen und Bräuche: Handbuch luzernischer Volkskunde

Lussi, Kurt (2024). Totengeister: Erlebnisse von Hans Rogger. Aufgezeichnet und mit volkskundlichen Erläuterungen versehen von Kurt Lussi. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.14576457

Lütolf, Alois, katholischer Priester und Historiker, veröffentlichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sammlungen zu Schweizer Sagen und Bräuchen, darunter Sagen, Gebräuche und Legenden aus den fünf Orten (1862).

Auszug aus der Sagenwelt des Kantons Luzern bezüglich Sträggele, Türst und Vuotisheer, o.J., Verein Vuotisheer Lozärn, www.vuotisheer.ch

«Wenn der Türst jagte», 29.07.1994 Willisauer Bote, Hans Marti (Nebikon)

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