Markus Kellenberger war vieles – Kaufmann, Journalist, Suchender. Heute bringt er Menschen am Feuer zusammen, reist mit ihnen im Rhythmus der Trommelklänge in die Anderswelt. Ein Schamane? Nein, sagt er. Aber einer, der zuhört. Und sich erinnert …

Vis-à-vis vom Miststock wohne er. So hatte er es gesagt. Doch vor Ort? Anleitung uneindeutig. Also Handbremse anziehen, aussteigen. Der Bauer und sein Sohn vor der Scheune verstummen, fragende Blicke wandern zum fremden Gesicht. «Markus Kellenberger?» Ein Nicken den Hang hinauf. «Da oben.» Ah, und: «Stellen Sie das Auto besser um, es kommt gleich noch einer.»

Vor dem Haus führt ein schmaler Pfad aus Steinplatten zur Haustür, zur Rechten bewacht von einem gewaltigen Schädel. Ein Büffel? Aus dunklen Augenhöhlen zieht der stumme Wächter Neuankömmlinge in seinen Bann. Bis die Tür sich öffnet, die Wärme des Hauses nach draussen strömt und Markus Kellenberger auf der Schwelle steht. Barfuss. Das Gesicht von Wind und Sonne gezeichnet, ein wacher Blick hinter runden Brillengläsern, im Haar eine Feder, ins Hemd ein Karomuster gewebt. Der Händedruck kräftig – «chom nome ine». Drinnen riecht es nach Rauch, nach getrockneten Kräutern und Holz. Der Duft legt sich weich über Wände und Möbel, über nervöse Gemüter und stürmische Gedanken. Auf dem Stubentisch brennt ruhig eine rote Kerze. Ein stilles Feuer. Im Laufe des Gesprächs wird Markus Kellenberger darauf zurückkehren. Auf das Glimmen, das Lodern, auf die uralte Anziehungskraft der Flammen. «Das Feuer», wird er sagen, «war einst Mittelpunkt der Gesellschaft. Dort, wo es brannte, versammelten sich die Menschen, erzählten, schwiegen, lachten, stritten.» Ein Zusammenkommen im Moment. Das verliere heute manchmal an Bedeutung. «Ein weiser Mann sagte mir einst: ‹Statt auf das Lagerfeuer starren wir auf unsere Handys – doch sie wärmen nicht›.» Kellenberger hat die Flammen nie vergessen. Deshalb entzündet er sie immer wieder neu – im Tipi mitten in der Natur bei seinen Feuerabenden. Menschen kommen zusammen, schweigen, reden, lauschen dem Knistern des Holzes, fühlen den Rhythmus der Trommelschläge. «Zurück zu dem, was verbindet.» Diese harmonische Verbindung des Menschen mit sich selbst, der Erde und allen Pflanzen-, Tier-, Geist- und Menschwesen, das sei der Kern schamanischen Denkens, erklärt Kellenberger.

Ein vielschichtiger Begriff

Ein Schamane? Nein, so würde er sich nicht nennen. Markus Kellenberger schüttelt entschieden den Kopf, rückt die Brille zurecht. «Der Begriff ist vielschichtig, aufgeladen, romantisiert, und mittlerweile auch ein Geschäft.» Die Zahl an Büchern, Seminaren, Festivals, an Heilversprechen und spirituellen Werkzeugen wachse jedes Jahr. «Von unseriös kommerziell über sektenhaft angehaucht bis ernsthaft spirituell – alles ist dabei.» Er lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck Tee. Das Wort «Schamanismus» fällt oft, wenn er erzählt. Aber nicht als Auszeichnung. «Es gibt nicht einfach den Schamanismus, den man sich nach einem dreimonatigen Intensivkurs in den Lebenslauf schreiben kann», sagt er. «Er ist keine Religion, kein festes System. Er ist ein Sammelbegriff – eine Beschreibung für spirituelle Vorstellungswelten, die in vielen indigenen Kulturen lebendig geblieben sind.» Er zählt einige auf, zwar ohne Pathos und doch kann man gar nicht anders, als fasziniert zuzuhören, wie er mit tiefer Märchen-Erzähl-Stimme von vergessenen Kulturen erzählt. Von den Yanomami und Miskito in Südamerika. Von den Navajo und Hopi im Norden. Von den Mongolen, den Massai, den Sami. Rund 5000 indigene Völker, die Missionierung, Verfolgung und Verbote überlebt haben – und mit ihnen ihre Rituale und ihre Art, die Welt zu begreifen. Mithilfe von Menschen in den Steppen der Mongolei, den Wäldern Nordkanadas, Mittelamerikas und Kalimantans, in den Wüsten Gobi und Sahara, in Europa, in Kapuzinerklöstern in der Schweiz und in der Casa Betulla im Tessin durfte Markus Kellenberger eintreten in eine sprichwörtlich andere Welt, die Anderswelt, die ihm damals seine Welt auf den Kopf stellte. Aber der Reihe nach.

Von der Teppichfabrik ins Bundeshaus

Wie will er also genannt werden, Markus Kellenberger, der Schamane, der sich nie als solcher bezeichnen würde? «Ech be eifach de Markus», sagt er und lacht. 65 Jahre alt, Vater von zwei erwachsenen Söhnen, Partner, Autor, wohnhaft in Fischbach. «Und Besitzer eines neuen Hemds.» Er streicht über den blauen Karostoff. «Letzte Woche gekauft.» Er macht ab und zu solche Bemerkungen, betont unerwartet weltliche Belanglosigkeiten, wie um klar zu machen: Auch wenn ich jetzt viel erzähle, ich will mich hier nicht zu wichtig nehmen. Wenn er etwa von den Mäusen in den Wänden des Bauernhauses berichtet oder von der Dusche schwärmt – «ja, ich könnte wieder in einer Höhle leben – aber nicht ohne Warmwasser» – blitzt eine Selbstironie hervor, die ihm nur noch mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Vielleicht auch schlicht, weil er kein Angeber ist. Und das, obwohl er eine ungewöhnliche Karriere hinter sich hat: Aufgewachsen in Herisau und Wynau, sei er in der Schule «e fuule Hond» gewesen, also habe ihm die Mutter bei der Lehrstellensuche kräftig unter die Arme gegriffen. Sie organisierte dem nicht zu bändigenden Sohn eine Lehre als Kaufmann in einer Teppichfabrik. «Es waren wohl alle froh, als ich die Ausbildung endlich mit Ach und Krach abschloss.» Es zog ihn in eine andere Welt, eine, in der es nicht um Zahlen und Verträge ging, sondern um Menschen. In der Psychiatrie arbeitete er als Begleiter für jene, die mit der Realität kämpften – Menschen in Krisen, in psychischen Ausnahmezuständen, in Abhängigkeiten. «Ich merkte schnell: Es gibt nicht die eine Normalität. Es gibt nur unzählige Perspektiven darauf.» Die Arbeit gefiel ihm. So sehr, dass er eine Ausbildung zum Ergotherapeuten machte, später sogar noch Physiotherapeut werden wollte. Aber irgendwann spürte er: Das war es nicht. Noch nicht. Er schlug sich durch. Kellnern, Kartoffeln sortieren, was eben kam. Das Geld für die Miete in Langenthal wurde trotzdem knapp. Dann der Zufall: Ein Freund meinte, er solle doch für die BZ Langenthaler Tagblatt Berichte schreiben. Er, Journalist? Warum nicht. Er setzte sich an seine Hermes Baby-Schreibmaschine, tippte los – und brachte den Text stolz in die Redaktion. Der Chefredaktor nahm einen dicken Filzstift, strich ganze Absätze durch. «Das geit so ned, Herr Kellenberger.» Also setzte sich jener Kellenberger die ganze Nacht hin, schrieb den Text von Hand mit Bleistift, feilte, kürzte, verdichtete. Am Morgen stand er wieder in der Redaktion, tippte alles ab. Diesmal war der Chef zufrieden. Und Markus Kellenberger hatte Blut geleckt. Er wurde zum regelmässigen Schreiberling. Bald klopfte die Berner Zeitung an. Ob er nicht ein Volontariat machen und am MAZ die Journalistenausbildung absolvieren wolle? Er wollte. Es folgten Jahre bei der Berner Zeitung, den Luzerner Neusten Nachrichten, bei Der Bund, beim Radio, bei TeleBärn, beim K-Tipp und dem Magazin «natürlich». Er berichtete über grosse und kleine Geschichten. War sogar als Bundeshausredaktor tätig – aber das gefiel ihm weniger. «Zu viele Interessen, die an einem zerren», sagt er. Lieber beobachtete er, wie sich alte Strukturen veränderten. Er schrieb über Gleichberechtigung, über Rollenbilder, die ins Wanken gerieten. «Mich hat immer interessiert, was Menschen antreibt. Warum sie lieben, hassen, hoffen. Warum sie tun, was sie tun.» Und genau deshalb liebte er seinen Job. Weil er überall sein durfte, mit allen sprechen konnte. «Ich hatte mit Säufern, Nutten und Drogendealern zu tun, mit Pfarrern, Erfinderinnen und Astronauten.» Das kam seinem Kindheitstraum am nächsten: Forscher zu werden. Oder Landstreicher. Tief in Themen eintauchen, an fremde Ort reisen. Und vor allem – immer wieder die eine Frage stellen, mit der er als Kind schon alle zur Verzweiflung getrieben hatte: Warum? Auf sein eigenes Warum hat er im Schamanismus Antworten gefunden. Dank eines Schlüsselerlebnisses, das ihn nicht mehr losliess.

Die Schwelle zur Anderswelt

Markus Kellenberger schenkt Tee nach. Während es aus den Tassen dampft, erzählt er. Schon als junger Mann sei er einmal eine Schwelle überschritten, ohne es zu wissen. Mitten in der Natur geriet er in einen anderen Bewusstseinszustand und verschmolz auf nie zuvor erlebte Art mit der ganzen Welt – eine unglaubliche Erfahrung sei das gewesen. Das Erlebte blieb ohne Namen, ohne Einordnung, und mit der Zeit verblasste es. Das Leben ging weiter, mit all seinen Verpflichtungen. Haus, Auto, Familie, Karriere. Er funktionierte, war erfolgreich, doch eine leise Unzufriedenheit begleitete ihn – bis eine befreundete Journalistin ihn mitnahm auf eine «schamanische Trommelreise». Ein Wort, das für ihn damals noch keinen Klang hatte. Doch als die Trommeln begannen, als der Rhythmus den Raum erfüllte, spürte er, wie etwas in ihm antwortete. Er trat erneut über die Schwelle und in eine andere Welt – diesmal bewusst.«Dieses Erlebnis war ein Geschenk», sagt Kellenberger. Ein Anfang, kein Ziel. Er wollte verstehen, erkunden und nicht blind glauben, was es mit dieser «Anderswelt» auf sich hat. Und so begann seine Reise. Nicht zu Gurus oder selbst ernannten Meistern, sondern zu Menschen, die tief verwurzelt waren in alten Traditionen. Er lernte, er lebte, er hörte zu und zog sich schliesslich für zwei Jahre ins Jurtendorf von Luthern Bad zurück, übte und vertiefte. Heute gibt er das Erfahrene weiter – ohne Heilsversprechen. Einerseits schreibt er regelmässig Kolumnen für das Magazin «natürlich», das er lange als Chefredaktor geleitet hatte. Anderseits lädt er zu Feuerabenden, berät Menschen in Krisen. Hört zu. «Viele denken, sie finden Antworten bei Geistern oder Ahninnen», sagt er. «Aber die können nur helfen, die Antworten zu finden, denn sie sind tief in uns drin schon da. Die Frage ist nur: Hören wir hin?»

Sich Zeit nehmen

«Hören wir hin?» fragt Markus Kellenberger nochmals, nimmt zwei der vielen Trommeln aus der Ecke des Zimmers und reicht die eine, zusammen mit einem Schläger. «Fühl den Rhythmus», sagt er und schlägt seinerseits bestimmt auf die Haut der Trommel. Ein einzelner, klarer Schlag. Der rhythmische Klang habe eine tiefe Wirkung, erklärt Kellenberger. Der gleichmässige Takt der Trommel, mit seinen 240 bis 270 Schlägen pro Minute, entspreche der Frequenz von Theta-Wellen im Gehirn – jener Frequenz, die beim Träumen aktiv wird. Neurowissenschaftler hätten in Studien nachgewiesen, dass dieses rhythmische, schamanische Trommeln tatsächlich die Gehirnaktivität beeinflusst und Menschen in einen Trancezustand versetzt, der den Zugang zu tieferen Ebenen des Bewusstseins ermöglicht.

Doch wie gelingt es, in dieser schnelllebigen Zeit den Kontakt zu sich selbst zu bewahren? «Der ständige Druck, immer erreichbar zu sein, die endlosen To-do-Listen und der Drang, sich ständig weiter zu optimieren – all das führt dazu, dass viele den Zugang zu ihren inneren Bedürfnissen verlieren», sagt Kellenberger. Wandern mit Schrittzähler, Yoga mit Fortschrittsplan, Meditation mit Erfolgsjournal: «So rennt der moderne Mensch unermüdlich weiter – nur um irgendwann nicht mehr zu wissen, wohin.» Das Gegenteil sei denkbar einfach, wenn auch schwierig auszuhalten: das Innehalten. Sich einen Moment Zeit nehmen, um den Rhythmus des eigenen Lebens zu spüren, aus dem Strudel auszutreten und der Welt um uns herum bewusst zuzuhören. «Und genau dafür will ich Wegbegleiter sein.»

Als die Teetassen leer sind, steht ein Besuch im Tipi an. Heute brennt hier kein Feuer, doch man kann es sich vorstellen, die Wärme im Gesicht, das Knistern der Flammen, die kraftvolle Präsenz der Trommeln, die den Raum in eine andere Dimension hüllt. Markus Kellenberger setzt sich hin. Atmet tief ein und aus, bevor er weiterspricht, wie er es während des gesamten Gesprächs immer wieder getan hat. Verrückt, dass einem diese kleine Regung überhaupt auffällt. Wenn jemand einfach… durchatmet.




Hinweis: Das erste Foto stammt von Andrea Abegglen.

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