Max ist 51-jährig, Familienvater, trockener Alkoholiker. Seit Kurzem organisiert der gebürtige Deutsche in Menznau Treffen der Anonymen Alkoholiker. Ihm hat die Gruppe das Leben gerettet.
Er hat sich das Datum auf den Unterarm tätowiert, den 19. Januar vor 19 Jahren, es war ein kalter Tag in Frankfurt am Main, die Wolken spiegelten sich dunkelgrau in den Glasfronten der Hochhäuser, die Frankfurter Allgemeine titelte einmal mehr über die Aussenpolitik vom damaligen US-Präsident George W. Bush, Hessens Polizei präsentierte ihre neue Uniform. Ein Tag wie viele davor und danach, doch für Max* ein Tag, den er nie mehr vergisst: Es war der Erste seit langer, sehr langer Zeit, an dem der damals 32-Jährige ganze 24 Stunden keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Viele weitere 24 Stunden sollten folgen. «Hätte ich weitergesoffen, wäre ich gestorben. Gefehlt hat auch so nicht mehr viel.»
Ein paar Bier vor der Arbeit
Heute, fast zwei Jahrzehnte später, sitzt er in Menznau am Küchentisch, die zweite Tasse Kaffee in der Hand und verschwommene Erinnerungen an eine schlimme Zeit im Kopf. «So ist das, wenn du säufst wie ein Loch.» Wenn das Bier in Strömen fliesst, verfliessen die Tage zu jener Einheit, die nur ein Gefühl kennt: Betäubung, jahrelange Betäubung – Max war während rund fünf Jahren täglich besoffen. Wie kam es dazu? «Ich weiss es nicht.» Schleichend. «Angefangen hat es mit dem Feierabendbier.»
Frankfurt in den Nullerjahren. «Jeden Tag Party», fasst Max zusammen. Der gelernte Restaurantfachmann lebt und arbeitet in der Gastroszene, als Service-Chef, als Barkeeper, als Kellner. Ein Knochenjob. Nach strengen Schichten – also jeden Tag – entspannt sich das Team bei einem kühlen Blonden. «Wir hatten wohl alle ein Problem», sagt Max rückblickend. «Doch die Arbeit war saustreng, das Bier schien verdient zu sein.» So auch der Gang in die nächste Kneipe. Und die Übernächste. Max bleibt stets bis am Schluss, bis zum letzten Bier. Nach wenigen Stunden Schlaf beginnt der Arbeitstag von Neuem. Damit ihm das Schaffen mit dickem Kopf einfacher fällt, trinkt Max irgendwann schon vor seiner Schicht ein, zwei Bier. Als Konter. Und damit die Hände nicht so zittern – «sichtlich unpraktisch in der Gastroszene». Um den Stress zu bewältigen, giesst er sich bald auch während der Arbeit mal ein Glas ein. «Bevor ich es richtig wahrhaben konnte, war ich hochgradig süchtig.» Niemand hält ihn auf: «Meine Eltern wohnten nicht in Frankfurt und bekamen meinen Absturz nicht mit, ich war single, wohnte alleine.» Die Abwärtsspirale nimmt ihren Lauf. Max verliert den Job, das Geld und komplett sich selbst. «Ich war nur noch auf der Suche nach Sprit.» Bis sein Körper kollabierte und er notfallmässig im Spital landete.
«Heute bleibe ich nüchtern»
Wer aus Alkohol-Gründen in jenes Krankenhaus eingeliefert wird, muss dort zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker (siehe Kasten) erscheinen. Max geht ohne grosse Erwartungen hin. Doch: «Es war lebensverändernd.» Die AA-Philosophie sagt ihm sofort zu. «Egal, welcher Hintergrund jemand hat: Wer mit trinken aufhören will, ist willkommen und fühlt sich auch sofort zugehörig.» Ein Grundprinzip begeistert Max besonders: «Es geht nicht darum, dem Alkohol per sofort auf immer und ewig abzuschwören.» Sondern schlicht darum, den Alkohol mal für die nächsten 24 Stunden stehen zu lassen. Sich zu sagen: «Heute bleibe ich nüchtern.» Tag für Tag aufs Neue. «Verrückt, aber es funktioniert tatsächlich.»
Nach einer Entzugstherapie im Schwarzwald, besucht Max regelmässig die AA-Treffen in Frankfurt. Oft mehrmals die Woche. «Die Treffen gaben mir den nötigen Halt.» Besonders dann, als er wieder zu arbeiten begann, in der Gastroszene, in welcher der Alkohol immer und überall präsent ist. Mehr noch: «Ich arbeitete als Barchef, mixte Drinks, zapfte Bier.» Dabei sagte er ständig Ja – zu sich. Heisst: Nein zum Alkohol, auch wenn er am Abend dutzende Mal eingeladen wurde. «Ich muss noch fahren», antwortete er auf das Warum. Oder aber auch: «Was ich früher gesoffen habe, reicht für zwei ganze Leben.» Schlagartig verstummten die Fragen.
Ein trockener Weinsammler
An der Küchenwand in der Menznauer Wohnung hängt markant ein grosses Bild: Stillleben mit Rotweinflaschen. Nicht gerade das, was man im Hause eines trockenen Alkoholikers vermuten würde. Max lacht: «Das war ein Hochzeitsgeschenk.» Gar noch von einem guten Freund. Denn dieser weiss: «Ich habe trotz Abstinenz eine grosse Leidenschaft für Wein.» In Deutschland hatte er sogar einen grossen Weinkeller mit Sandsteingewölbe. «Ich sammelte exklusive Weine, wickelte sie in Zellophan und bettete sie in Holzkisten.» Jeder Wein habe er in einer Excel-Liste festgehalten. «Wenn meine Frau Lust auf einen Wein hatte, liess ich sie durch die Liste scrollen und einen guten Tropfen aussuchen.» Er entkorkte die Flasche, roch daran und servierte ihr das Glas. «Ja, das ist wahrscheinlich schon nicht so normal mit meiner Geschichte», sagt Max und lacht. Doch es zeigt, wie weit er es gebracht hat. «Es braucht enorme Willensstärke, ist man doch jederzeit buchstäblich nur eine Armlänge vom Alkohol entfernt.» Max spricht von der «Volksdroge Nummer 1» – und wünscht sich, dass vor allem die Jungen mehr über die Auswirkungen aufgeklärt werden. «An der Fasnacht sah ich Kinder, ja es waren wirklich noch Kinder, die eindeutig nicht mehr nüchtern waren – das ist schockierend.» Er ist der Meinung: «Egal bei welcher Droge: Legalisierung ist stets der falsche Weg.» Das gelte auch bei Alkohol. «Man kann nicht vorsichtig genug sein – die Sucht kommt schneller, als man es begreifen kann.» Bis heute isst Max keine Pralinen, keine Sauce, keine Torte, die Alkohol enthält. «Ich bin dafür stets präsent, verlässlich – kann meinen zwei Kindern ein guter Vater sein, meiner Frau ein guter Ehemann.»
Da seine Frau in der Schweiz arbeitet, zog die Familie vor rund fünf Jahren in die Schweiz. Vor zwei Jahren fanden sie in Menznau ihr Daheim. Hier hat Max neu AA-Treffen initiiert: Seit Mitte April finden in der Pfarrkirche Menznau, Raum Corner, jeden Montag von 20 bis 21.30 Uhr, Meetings statt. Jeweils am ersten Montag im Monat ist das Treffen zudem auch für Angehörige von Alkoholikerinnen und Alkoholiker geöffnet. Max organisiert und leitet die Treffen. «Teilnahme ist kostenlos – aber unglaublich wertvoll.» Bisher sind jeweils maximal fünf Personen erschienen. «Gerne würde ich die AA-Treffen in Menznau noch stärker etablieren. Schön wäre es, wenn sich daraus eine feste Gruppe ergibt.» Er weiss aus Erfahrung: «Bei den AA entstehen Freundschaften, die lassen sich nicht mit Gold aufwiegen.» Ob bei den Treffen oder danach gemeinsam in der Kneipe bei einem Kaffee: Gegenseitig bestärken sich die Mitglieder nämlich immer wieder darin, dass ein Leben ohne Alkohol möglich ist. Mehr noch: Nur ohne Alkohol ist für sie ein Leben möglich.
*Max ist ein Pseudonym. Der korrekte Name ist der Redaktion des Willisauer Bote bekannt.