Nach 36 Jahren seelsorgerischer Tätigkeit tritt er zurück: Roger Seuret kündigt auf Ende Mai kommenden Jahres seine Stelle als Diakon in Altishofen. Überraschend. Wieso? Mit dem WB spricht der 61-Jährige über gesellschaftlichen Wandel und neue Wege.
Ein Fenster des grünen Pfrundhauses öffnet sich. Roger Seuret winkt durch den prasselnden Regen: «Ich bin im zweiten Stock.» Oben an der Holztreppe wartet er bereits. «Dich habe ich noch getauft – und deinen Grossvater beerdigt», sagt er zur Begrüssung und schüttelt fest die ausgestreckte Hand. Der Satz kommt fast beiläufig aus seinem Mund – und sagt doch unendlich viel. Darüber, wie lange der 61-Jährige bereits im Dienst der Kirche steht. Darüber, wie gut er sich an längst Vergangenes erinnert – wie es ihn noch heute berührt. Und schliesslich auch darüber, wie viele Gegensätze er in dieser Zeit erlebt hat. Leben und Tod. Freud und Leid. Licht und Schatten.
Eine Töffsegnung mit Kultstatus
Über die Hälfte seines Lebens arbeitet Roger Seuret schon als Seelsorger: 25 Jahre jung ist er, als er in Schötz als Pastoralassistent anheuert – in Jubla-Lagern schliesst er Freundschaften, die bis heute halten. Nach sieben Jahren wechselt er nach Grosswangen, leitet dort 16 Jahre lang die Pfarrei. Schliesslich kommt er vor 13 Jahren nach Altishofen. Hier hat er viel auf die Beine gestellt, Menschen begleitet, Traditionen weitergetragen. So hat beispielsweise die Töffsegnung einen Kultstatus erreicht – aus der ganzen Zentralschweiz kommen die Motorradfahrerinnen und -Fahrer am ersten Mai-Wochenende nach Altishofen. Das zeigt deutlich: Roger Seuret findet den Draht zu den unterschiedlichsten Menschen. Spricht man bei Altishoferinnen und Altishofer ihren Seelsorger an, so finden sie nur anerkennende Worte. Roger Seuret? «Das ist einer, der mitten bei den Leuten ist.» Diese Wertschätzung spürt und schätzt der Vielgerühmte. «Hier bin ich zu Hause», sagt er. Im Mai 2011 organisiert der Diakon zum ersten Mal den Auffahrts-Umritt in Altishofen. Diesen Frühling tut er dies zum letzten Mal: Roger Seuret legt sein Amt als Diakon per Ende Mai nieder. Dies kommuniziert er offiziell Anfang November an der Kirchgemeindeversammlung Altishofen-Nebikon. Und macht dort auch gleich Gerüchten den Garaus: «Nein, ich kündige nicht aus Protest an der Kirche.» Wieso dann? Auf diese Frage hat der Diakon viele Antworten. Und es wird deutlich: Der Entscheid erfolgt nach langem Abwägen. «Es ist mir gar nicht einfach gefallen – und doch fühlt es sich jetzt richtig an.»
Massive Austrittswelle nach Missbrauchsskandal
Während der Regen an die Fensterscheiben prasselt, flackert auf dem Tisch eine Kerze, taucht den Altbauraum in goldgelbes Licht. Wie Roger Seuret dasitzt, die Worte mit Bedacht wählt, so kann man sich ihn als Seelsorger gut vorstellen. Nur ist es dieses eine Mal seine eigene Seele, um die er sich kümmern muss. «Ich muss jetzt Sorge zu mir tragen, zu meiner Gesundheit»: Das war die Erkenntnis, die den Pfarreileiter zum Kündigungsentscheid geführt hat. «Ich durfte so viele schöne Momente erleben, so viel Liebe spüren. All das möchte ich überhaupt nicht missen», betont er. Doch er habe gespürt: «Ich bin nicht mehr gleich belastbar, wie ich es als junger Mann war.» Die letzten Jahre hätten ihn aus mehreren Gründen mitgenommen:
Die Pandemie, bei welcher der gesellschaftliche Zusammenhalt innerhalb des Pastoralraums nachhaltig geschwächt worden sei und er unter ständigem Strom gestanden habe.
Die Beerdigungen von engen Freunden und kaum volljährigen Altishofern, welche er innerhalb der vergangenen zwei Jahre durchzuführen hatte.
Der Mangel an Personal in den Pfarreien, welche dazu führt, dass von den Seelsorgenden ständige Präsenz gefordert ist – was grossen Druck verursacht.
Und schliesslich auch der permanente Spagat zwischen der Orts- und der Amtskirche. «Nochmals: Ich schmeisse den Bettel nicht aus Unzufriedenheit an der Kirche hin.» Doch die Spannungen hätten zur Dauerbelastung beigetragen. «Die Austrittswelle nach dem Missbrauchsskandal von diesem Herbst ist massiv.» Auch in der Pfarrei Altishofen. «Die Menschen sind zwar zufrieden mit der Kirche vor Ort, wollen aber ein Zeichen gegen den Vatikan in Rom setzen.» Das verstehe er gut. Und doch frustriere es ihn, versuche er jeweils darauf hinzuweisen: Die Kirchensteuer kommt zu 95 Prozent der eigenen Kirchgemeinde zugute. Frauengemeinschaften, Kirchenchor, Jugendvereine: «Sie tragen viel zu einer funktionierenden Gesellschaft bei – und profitieren von den Kirchengeldern.»
Die träge Weltkirche, die von oben herab regiert
2009: Über 1500 Gläubige treffen sich unter dem Motto «Auftreten statt austreten – wir sind für eine offene Kirche» vor der Jesuitenkirche in Luzern und zogen von dort aus mit Transparenten zur Hofkirche. Mittendrin: Roger Seuret. Der Diakon hat zeitlebens die monarchische Haltung des Vatikans kritisiert. Er marschiert bei Kundgebungen mit, unterschreibt Pfarrei-Initiativen, fordert in Leserbriefen mehr Demokratie. «Immer wieder auf taube Ohren zu stossen: Das frustriert.» Der Pfarreileiter betont: Er sei zufrieden mit dem Bistum Basel, welchem er unterstellt ist. «Es ist vielmehr die träge Weltkirche, welche von oben herab alles regiert. Sie macht mürbe.» Demokratisierung, Dezentralisierung, Entscheidungskraft den Kontinentalkirchen: «All das wäre längst notwendig – es kann doch nicht sein, dass alleine einer Elite von alten Männern die gesamte Macht in der Kirche gehört.» Ein Thema, welches Seuret des Öfteren auch in seinen Predigten aufnimmt: Er verlangt für die Frauen einen gleichberechtigten Platz in der römisch-katholischen Kirche. «Ausschlaggebend sollte weder Geschlecht noch Zivilstand sein, sondern die Leute vor Ort müssen einfach die Bevollmächtigung erhalten, die sie brauchen.» Aber so einfach scheint es nicht zu sein: «Vieles wird gesagt, wenig getan – das erschüttert die Glaubwürdigkeit.» Wird sich das jemals ändern? Roger Seuret überlegt. «Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann sicher», sagt er schliesslich, den Blick auf die Kerze gerichtet. «Es muss sich etwas ändern! Die Kirche hat nur in einer anderen Form eine Zukunft.» Roger Seuret sagt das mit jenem Nachdruck, der sich während des Gesprächs des Öfteren einschleicht. Immer dann nämlich, wenn die Grundsatzfrage im Raum steht: Braucht es sie überhaupt noch, die Kirche? «Unbedingt», sagt Seuret.
«Grosspapi, geds de liebi Gott?»
In einer Zeit, die zu rasen scheint, könne Glauben Halt geben. Simple Rituale, wie etwa ein Tischgebet, würden Kraft spenden. Glauben bedeute auch Gemeinschaft. «Die Menschen sind Herdentiere – es ist wichtig, dass wir uns nicht voneinander entfremden. Sonst vereinsamen wir», sagt Seuret. Und fasst zusammen: «Das Bekenntnis zu Gott ist ein Bekenntnis zum Guten – und ich bin überzeugt, dass es das braucht.» Doch ist es – in einem Jahrhundert voller wissenschaftlicher Erkenntnisse – möglich, an Gott zu glauben? Die Frage hört er auch von seinen Enkeln. «Grosspapi, geds de liebi Gott?» Roger Seuret antwortet mit Gewissheit: «Ja, es steckt etwas Grösseres dahinter, eine göttliche Urkraft. Gott ist wie ein Vater, wie eine Mutter.» Eine Mutter? «Ja. Der Mensch ist schliesslich ein Abbild von Gott, also auch Gott vom Menschen. Gott bedeutet schlicht und einfach: Liebe.» Es gehe nicht darum, dass etwa in sechs Tagen die Welt erschaffen worden sei: «Zu der Zeit, als das geschrieben wurde, wusste man es nicht besser.» Wissenschaft und Glauben würden sich nicht ausschliessen. «Das war ein grosser Fehler, den die Kirche lange gemacht hat.»
Ein Seelsorger am Bügelbrett
Das Gespräch neigt sich dem Ende entgegen. Einige Male haben sich beim Rückblick auf die bewegten Jahre Tränen in die Augen des Diakons geschlichen. Der Zukunft schaut er zuversichtlich entgegen. «Obwohl ich noch nicht weiss, was kommt.» Er wolle in Vereinen mitwirken. Zeit mit den Grosskindern verbringen. «Und Wäsche bügeln lernen», sagt er und lacht herzhaft, als er den verdutzten Gesichtsausdruck seines Gegenübers sieht. «Das meine ich ernst!» Er sei ein geübter Hausmann, doch das habe er nie gekonnt. «Jetzt ist Zeit dafür.» Auch freue er sich darauf, die eine oder andere Reise mit seiner Frau Astrid zu unternehmen. «Wir sind seit 46 Jahren zusammen, sie war und ist stets eine grosse Stütze für mich – ich bin ihr unglaublich dankbar für alles.» Draussen hat es aufgehört zu regnen. Drinnen ist die Kerze fast runtergebrannt, der Kaffee getrunken. Roger Seuret stellt die Tassen, den Zucker und Rahm auf ein Tablett. Lehnt sich zurück, verschränkt die Hände auf dem Tisch. «Und wie geht es deinen Eltern?», fragt er, aufrichtig interessiert. Und macht damit nochmals deutlich, wieso die Menschen ihn so schätzen: Er predigt die Nächstenliebe nicht nur. Er lebt sie.