Vergiss mein nicht
Vinzenz Ruckstuhl hat mit seinem Bagger Häuser in Grund und Boden gerissen – und eine Gedenkstätte gegen das Vergessen errichtet. Wieso?
Und plötzlich schweigt er. Vorher jagte er mit seinen Sätzen dem Punkt nach, dem grellgrünen Laserpunkt, der auf der Wand von Foto zu Foto, von Totem zu Toter raste. Nie musste er überlegen, wenn er mit dem Pointer ein neues Leidbild ins Visier nahm, immer wusste er etwas zu erzählen über jenen Menschen, schöne, lustige, traurige Geschichten, und er hätte wohl lange nicht damit aufgehört, hätte man ihm diese eine Frage nicht gestellt, mit der er nicht gerechnet hat: Was wird einst über ihn erzählt werden?
Vinzenz Ruckstuhl schweigt. Kratzt sich mit der einen Hand in den grauen Haaren, hält in der anderen Hand noch immer den Laserpointer und schaut die Fotos an der Wand an, nein, er starrt sie regelrecht an, seine verstorbenen Freunde, als ob sie die Frage für ihn beantworten könnten.
Was den Leuten alles egal ist
Kaum fällt der Boden unter dem Hieb in sich zusammen, steigt der Staub über dem Geröll und den alten Balken auf, Sekunden nur, dann klärt sich die Sicht. Zeigt, dass Esszimmer, Bad, Büro, nicht mehr da sind. Der erste Teil des Hauses dem Erdboden gleichgemacht, durch Vinzenz „Vitzu“ Ruckstuhl. Das ist seine Schlacht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen, zusammengepressten Lippen, beiden Händen an den Hebeln seines Baggers, kämpft er. „Geh rein“, ruft er über das Getöse der Baustelle hinweg und fuchtelt mit der linken Hand in Richtung des unversehrten Teils des Hauses. „Da drin gibt es eine Wand, die…“. Der Rest seiner Worte wird vom Lärm verschluckt.
Drinnen ist es düster. Wo einst eine Lampe Licht spendete – Gesprächen, Gedanken, Gelebtem – baumelt jetzt ein Kabel aus der Decke. Nackte Wände. Zeitungen! „Mit denen hat man früher isoliert, kaum zu glauben, was?“ Er kam auf leisen Sohlen, jetzt hallt seine Stimme von den Wänden wider. Vitzu gräbt in den Arbeitshosen, zückt sein Sackmesser. „Victorinox, die einzig wahren“, sagt er, als er behutsam beginnt Zeitung um Zeitung von der Wand zu lösen. „Knechte-Mangel auf den Bauernhöfen“, liest Vitzu von einer Frontseite vor. „Das ist spannend, oder?“, fragt er, eine Antwort erwartet er nicht. „Was ich bei den Abbrüchen alles finde, was den Leuten anscheinend alles egal ist, das ist kaum zu glauben!“ Das Willisauer Volksblatt vom 21. Mai 1928 landet auf dem Stapel. Und der Stapel landet später zwischen alten Lötkolben und selbstgeschmiedetem Werkzeug in seinem Museum.
Was mal gut gedient hat
In der Mitte des Raumes steht ein wuchtiger Amboss, dahinter Vitzu, schnaufend, schwitzend, klopft er mit erstaunlicher Kraft für einen 72-Jährigen das glühende Eisen mit dem Hammer butterweich. Metall prallt auf Metall, der Klang fährt durch Mark und Bein. Von Ohrenschützen hält Vitzu nichts. Hinter ihm prasselt das Feuer im Schmiedeofen, Ländlermusik dudelt aus dem kleinen Radio auf der Werkbank. Immer wieder lässt Vitzu den Hammer auf den roten Klumpen vor sich sausen, dreht, biegt, formt, bis schliesslich: „Fertig“. Naja, fast. Es fehlt noch der Holzstiel am Metallkopf, bevor er den neuen Hammer zu den anderen Werkzeugen hängen kann. „Ein Schmied hat sämtliches Werkzeug selbst gefertigt“, sagt er, „ja, das hat er“. Wie so oft, wenn er von Vergangenem spricht, wiederholt er sich. So, als ob er sich selbst eingestehen müsste, dass es heute eben nicht mehr so ist.
Vitzu in Aktion:
Was einst war, lebt nur noch hier weiter: Nebikerstrasse 46, 6247 Schötz. Mitten im Industriegebiet, neben seiner Bude, hat er angebaut. Hier hat er etwa die alte Schmiede originalgetreu eingebaut, die er vor dem Abbruch rettete.
„Strandgut“, nennt Vitzu, was er von Abbrüchen mitnimmt. Über Jahre hat er sich so in der Schmiede ein eigenes kleines Museum errichtet. Privat. „Aber ich zeige meine Schätze gerne – Leute, die sich interessieren sind immer willkommen.“ Insgeheim freut er sich aber über jeden Besuch. Fast noch mehr, wenn jemand erst für altes Handwerk begeistert werden muss. „Weisst du, was das ist?“, fragt er dann als erstes. Und erklärt mit einfachen Worten und grossen Gesten so lange, für was man die Transmissionsanlage früher genutzt hat, wie die ersten 5-Pferdestärken-Deutz-Motoren eingesetzt wurden oder warum für Lötlampen erst Benzin, dann Gas verwendet wurde, bis man nicht drum rum kommt zu sagen: Ja, das ist wirklich faszinierend. Und wenn man dann noch zugibt, beeindruckt zu sein, mit wie wenig Fremdkraft und wie viel Geschick früher gemacht wurde, was heute nur noch Maschinen erledigen, dann schieben sich seine Mundwinkel unter dem Schnäuzer in die Höhe. Fragt man ihn, woher er das enorme Wissen hat, strahlt er vor Freude.
Einen Ecken von Vitzu’s Museum genauer unter die Lupe genommen:
„Wie in jedem Haushalt, ist eine exakte Ordnung auch für jede Schmiede Bedingung jeglicher Betätigung“, liest Vitzu vor. Und weiter: „Zeit ist Geld, Zeit und Materialverlust sind die unvermeidlichen Formen jeder Unordnung.“ Seite 122 des Schweizerischen Lehrbuchs für Militär-Hufschmiede. Mit dem Buch als Grundlage bringt Vitzu sich selbst das Schmieden bei. „Warum ich so viel weiss? Ich lese, ich probiere“, sagt er und legt das Buch zurück auf die Werkbank, griffbereit. Demnächst besucht er einen Schmiede-Kurs mit dem Titel „Herstellung von Treicheln“ im Appenzell. „Wieso machst du das?“, fragen ihn die Leute, wenn er davon erzählt. „Und sie haben ja Recht, es bringt mir eigentlich nichts.“ Trotzdem will er daran teilnehmen. „Weil ich nicht vergessen will, was meine Vorgänger einst wussten und leisteten.“
Wertschätzung gegenüber dem Handwerk. „Die geht immer mehr verloren.“ Wie immer, wenn Vitzu sich aufregt, wird seine Stimme lauter. „Heute gelten wir Büetzer als Bajassen.“ Als Idioten. Als Taugenichtse. „Wer auf drei zählen kann, der wird Bänker oder Beamter.“ Und für alles braucht man einen „Fötzu“, ein Diplom, einen Abschluss, ja gar ein Studium. „Bei mir lief das noch ganz anders“, sagt er. Vitzu blickt zurück. „Früher…“
"Heute gelten wir Büetzer als Bajassen."
29. Januar 1947. Vinzenz Ruckstuhl wird geboren. Zusammen mit zwei Schwestern und fünf Brüdern wächst er auf dem Bauernhof im Aesch, Ebersecken, auf. Als er mit 16 die Schule verlässt, wartet die Arbeit auf dem elterlichen Hof auf ihn. Die Zukunft scheint vorgezeichnet. Ja, es wäre so einfach gewesen. Hätte es an jenem Maitag im Jahre 1968 nicht wie aus Kübeln geregnet, hätte Vitzu nicht die Kontrolle über das Auto verloren. Er wäre in der Folge nicht zwei Jahre arbeitsunfähig gewesen und hätte – als ältester Sohn – den Betrieb übernehmen können. Aber es kam anders. Vinzenz Ruckstuhl startet von ganz unten: als Staplerfahrer bei einem Lohnunternehmen. Fragt man ihn wie er es fertigbrachte, schliesslich sogar eine eigene Firma auf die Beine zu stellen, und so viel Geld zu verdienen, dass ein Jaguar in seiner Garage steht, dann sieht man den Stolz in seinen Augen aufblitzen. „Wie sagt man so schön? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“
„Heute“, sagt er mit lauter Stimme. Heute würde das nicht mehr gehen. Heute zähle nicht mehr, was man könne, sondern nur noch, was auf dem Papier stehe. „Und über jeden Furz muss ein Protokoll geführt werden.“ Kein Wunder würden die kleinen Betriebe zu Grunde gehen, wenn sie bald mehr Zeit mit Administration als mit Arbeit verbringen müssten. „Verdammte Bürogummigesellschaft.“ Ja, fluchen kann er. Dann, wenn er etwas ungerecht findet. Wenn er etwa in der Zeitung liest, dass der Credit-Suisse-Chef 13 Millionen im Jahr verdient – dann flucht er. „Unsereins knüppelt sich für einen roten Rappen bei Wind und Wetter draussen auf dem Bau kaputt.“
Was er anders machen würde
Es braucht nicht viel. So gigantisch der Abbruchbagger daherkommt, so klein ist der Widerstand des Hauses. Ein sanfter Ruck und die Wände brechen zusammen, als ob sie aus Karton wären. Der Schutt landet in der Abfallmulde, die neben dem Haus platziert ist. Vitzu steht mit einem Schlauch in der Hand daneben, stets bereit, den Staub, der wie Rauch über dem Geröll aufsteigt, mit Wasser zu bändigen. Vitzus Bagger sieht geradezu klein aus gegen dieses Abbruchmonster, das Wand um Wand einstürzen lässt.
Abbrucharbeiten im Zeitraffer:
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„Ich hatte früher auch mal so einen, nein, gar zwei von diesen grossen Baggern“, schreit er über den Baulärm hinweg. „Früher“, das heisst vor sieben Jahren, erklärt Vitzu später in der Znünipause. Mit 65 hat er seine Maschinen verkauft, seine Arbeiter weitergegeben und sein Pensum reduziert. „Pensioniert werde ich wohl mein Leben lang nie, aber heute arbeite ich nur noch so viel, wie ich Lust habe.“ Und zwischen zwei Sandwichbissen sagt Vitzu den Satz, den er oft sagt, wenn er über sein Berufsleben spricht: „Ich würde heute einiges anders machen.“
1972: Vinzenz Ruckstuhl arbeitet viel und gönnt sich nichts. Er planiert Strassen im Frühling und Herbst, fährt im Sommer mit dem Mähdrescher zu den Bauern, pflügt Schnee im Winter. Alles ohne Ausbildung. 1974: Er stellt seinen ersten Arbeiter für das Belagsbau-Geschäft ein. 1975: Er kauft den ersten eigenen Bagger, einen Menzi Muck, – und stellt den zweiten Arbeiter ein. 1979: Er wechselt die Branche. Sein neues Business konzentriert sich auf Hangsanierungen. Oft hiess das: Wasserleitungen bauen, ausbauen, umbauen. Parallel dazu kauft er sich einen Bagger für Abbrüche – „oder wie man heutzutage sagt: Aushub und Rückbau“. Dann den zweiten Bagger. Dann den dritten Bagger. Dann zwei Traxe. 1992: Vitzu schuftet. Tagein, tagaus. Er hat sechs Arbeiter, acht Maschinen und eine 23 mal 30 Meter grosse Halle im Industriegebiet von Schötz, eine 15-jährige Tochter, ein neu gebautes Haus in Egolzwil – und keine Partnerin mehr. Sie wollte nicht länger einsam sein, erst recht nicht in einem grossen neuen Haus. Weil: Vitzu schuftet. Tagein, tagaus.
„Wer nur arbeitet, immer nur arbeitet, der lebt nicht richtig. Und wer nicht richtig lebt, der geht vergessen. So ist das.“
„Zeit“, sagt er, während er das Sandwichpapier in der Hand zerknüllt, „ich würde mir mehr Zeit nehmen.“ Wenn er nochmals zurückkönnte. „Wer nur arbeitet, immer nur arbeitet, der lebt nicht richtig. Und wer nicht richtig lebt, der geht vergessen. So ist das.“ So ist das.
Was nach dem Tod kommt
Vitzu sitzt selten lange still. Auch jetzt nicht. Der Kaffee in seiner Tasse ist längst kalt, als er sich zum x-ten Mal von seinem Stuhl erhebt, diesmal, um das Amulett zu holen, das er von seiner Reise in den Anden mitgebracht hat. Obwohl in der kleinen Wohnung, die er in der Etage über seinem Museum eingerichtet hat, alles seinen Platz zu haben scheint, findet Vitzu selten, nach was er sucht. Und trotzdem immer etwas, das er zeigen kann. „Wo hab ich jetzt…“, murmelt er und kramt in einer Schublade des grossen Holzschranks. „Ach schau an, was wir hier haben“, sagt er und kehrt mit einer Vase aus Indien in der Hand an den Küchentisch zurück. Auf diesem stapeln sich die letzten sieben Jahre. Oder: „Mis ganze Läbe“, wie Vitzu sagt.
Jeder Gegenstand erzählt eine andere Geschichte über ihn. Ein Wandbild vom Herzensguten, der im Kongo unentgeltlich Wasserleitungen baute und sich dort für Schreibtische in der Schule einsetzte. Die indische Vase vom Abenteuerlustigen, der nach seiner Pensionierung in einem Jahr alle Kontinente bereiste.
Das kleine Aluvelo vom Engagierten, der sich jahrelang im Organisationskomitee für das 24-Stunden-Rennen in Schötz eingesetzt hat, wobei er jeweils dem russischen Radrennfahrer Sergej Taveski bei sich beherbergte. Das Foto von Vitzu auf einem alten 310-er Hürlimann berichtet vom Geselligen, der mit seinen Traktorenclub-Kumpels Gas gibt. Die Zeichnung seines Enkels vom Familienmenschen, der alles für seine Tochter und die Grosskinder machen würde. Und Friedrichs Nietzsches Buch „Der Antichrist“ vom Kritischen, der mit Argwohn auf die Kirche schaut. „Ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube? Pha, nein du. Himmel und Hölle sind reine Geldmacherei. Wenn es fertig ist, ist’s fertig, basta, aus.“ Vitzu haut mit der Faust auf den Küchentisch. „Aber ob etwas fertig ist, das können wir selbst steuern. Denn wirklich tot ist nur, was vergessen geht.“
Grellgrün ist der Punkt des Laserpointers, den Vitzu in der Brusttasche seines Hemds bei sich trägt und den er nun über die Wand neben den Küchentisch wandern lässt. Er erzählt vom Dorfpolizisten, der noch Freund und Helfer war; vom Ronmühle-Museumsdirektor, der ein enormes Wissen über die Welt hatte; von der Nachbarin, die viel zu früh vom Krebs geholt wurde. Und er hätte wohl lange nicht mit dem Erzählen aufgehört, hätte man ihm diese eine Frage nicht gestellt, mit der er nicht gerechnet hätte: Was wird einst über ihn erzählt werden?
Vitzu schweigt. Lange. „Ein Kämpfer“, sagt er dann, er nuschelt es mehr durch seinen Schnauz hindurch. „Der Vitzu hat gekämpft, werden sie sagen.“
Und wenn sie das sagen, dann hat er seinen Kampf gewonnen. Gegen das Vergessen.
Das Foto von Indien wurde zur Verfügung gestellt.
Alle anderen Inhalte stammen von Chantal Bossard.
Mitarbeit bei den Videos: WB-Online-Verantwortlicher
Corsin Mattmann.
Dieses Porträt ist meine Abschlussarbeit der zweijährigen Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ.
„Vöu Liebi“ an alle, die den Text bereits auswendig können, weil sie ihn immer und immer und immer wieder lesen mussten.