Willisau Unter einem Grabstein ruhen die Toten. Hinter einem Grabstein steckt Arbeit von einem kleinen Kunsthandwerk, das selbst auszusterben droht: der Steinbildhauerei. Ein Besuch im Atelier von Thomas Heini.

Der Hochnebel, der hinter den hohen Fensterfronten am Himmel hängt. Die Steine, die sich überall im Raum stapeln. Der Staub, der einem unter den Schuhsohlen klebt. Grau. Alles ist grau. Und mitten im grossen Grau, kniet er: Linus Mattmann. Er hält einen Winkel auf den rechteckigen Stein vor sich, zeichnet einen Strich. Der Blick ist konzentriert, die Hände ruhig. Strich. Strich. Strich. Schliesslich richtet er sich auf, klopft den Stein­staub von den Knien, versorgt Zeichenstift und Winkel, hebt sein Beret, fährt sich durch die dunkelbraunen Locken, lacht. «Fertig», sagt er. Fertig mit einem kleinen Schritt von vielen bis zum vollendeten Grabstein. Denn noch ist der Stein glatt. Einst soll ein Baum die Oberfläche zieren. Das zeigt ein kleines Gipsmodell, das danebensteht. Linus Mattmann schaut es an, legt den Kopf schief. «Was war das wohl für ein Mensch, der unter diesem Stein zu ruhen kommt?» Das fragt er sich bei jedem Auftrag von Neuem. «Ich will dem Verstorbenen mit meiner Arbeit gerecht werden», sagt er. «Mit jeder Handbewegung gebe ich mein Bestes.» Dieser Ehrgeiz ist Voraussetzung in seinem Job. Fehler lassen sich schwer vertuschen, sind sie doch sogleich in Stein gemeisselt.

Zufall oder Schicksal?

Der Wasserkocher brodelt. «Tee oder Kaffee?», fragt Linus Mattmann und stellt die Tassen auf den Tisch. Die Frauenskulptur auf der Ablage, die kleinen Grabsteinmodelle im Regal, die Steinelemente im Ecken: auch im Atelier neben der Werkstatt dominiert: Grau. Eintönigkeit im Beruf kommt jedoch nicht auf. Im Gegenteil: «Steinbildhauer ist ein äusserst vielfältiger Job.» Gefragt ist sowohl kreatives Denken wie auch handwerkliches Geschick, räumliches Vorstellungs- sowie gewisses Einfühlungsvermögen. Kunsthandwerk halt. «Eine spannende Branche.» Eine, die ihm fast entgangen wäre. Ohne Zufall – «oder war es Schicksal?» – wäre er wohl heute Koch oder Gartenbauer. Der Tod seines Grossvaters führte den Grosswanger zum Willisauer Steinbildhauer Thomas Heini. Nach zwei Schnuppertagen stand für ihn fest: «Das passt.»

«Das passt», lautete auch das Fazit von Thomas Heini, der sich mittlerweile mit einer Tasse Tee dazugesellt hat. Eigentlich hatte er dazumal gar keine Lehrstelle ausgeschrieben. «Linus Talent, sein Charakter – sein Gesamtpaket – überzeugten mich.» So kam es, dass der 21-Jährige vergangenes Jahr mit drei weiteren Personen die Ausbildung zum Steinbildhauer abschloss. Als einziger Zentralschweizer. Neu zählt der Beruf, der zu den ältesten der Welt gehört, zu den «Kleinstberufen» – zusammen mit Berufen wie etwa Goldschmied, Glasmaler, Geigenbauer. Alles Tätigkeiten, die man zusammenziehen muss, damit überhaupt ein Lehrgang durchzuführen ist. «So kann man sie vielleicht noch retten», sagt Heini. Er begründet das abnehmende Interesse an jenen Berufen anhand verschiedener Faktoren. «Grundsätzlich nimmt das Interesse ab, weil die Wertschätzung in der Gesellschaft gegenüber dem Handwerk, insbesondere den Kleinen, abnimmt.» In der Steinbildhauerei auch deswegen, weil Begräbnisse in einem klassischen Grab auf dem Friedhof nicht mehr angesagt sind. Und: «Ich war mir bei der Lehrstellensuche gar nicht bewusst, dass man Steinbildhauer lernen kann», sagt Linus Mattmann.

«Auf Wiedersehen»

Das Telefon klingelt. «Heini? Grüezi. Jawohl, ja. Selbstverständlich. Mhm. Kommen Sie doch mal vorbei, dann schauen wir das gemeinsam an, ja? Vielen Dank. Auf Wiedersehen.» Er nickt Linus Mattmann zu: «Ein Grabstein.» So läuft das. Auf das Telefon folgt ein Besuch. Ein Rundgang durch Werkstatt und Atelier, ein Gespräch bei Kaffee oder Tee.
Heini will zeigen, wie sie schaffen, will herausfinden, was sich der Kunde vorstellt. Dabei merkt er immer wieder: «Was wir wollen und was die Leute wollen, das ist ein Unterschied.» Momentan würden eher kitschige Sujets im Trend liegen. Lastwagen, Herzen und Engelsflügel in Stein gemeisselt: «Das ist zu akzeptieren, ganz klar. Aber ich persönliche finde: guter Stil geht anders.» In einem Gespräch erklärt er dem Kunden seine Philosophie. «Wer vor einem Grabstein steht, muss das Gefühl haben, dass es auf der Welt noch mehr gibt als das Sichtbare – etwas Grösseres, etwas Spirituelles.» Etwas, das über den Tod hinausgeht. Ein Grabstein soll für eine Person stehen und mögliche grössere Zusammenhänge andeuten. «Und das tun Alltagsmotive nur schwerlich.»

Werkstatt vor Büro

Keine unternehmerischen Strategien, sondern philosophische Überlegungen: Wenn man mit Thomas Heini über seine Branche spricht, spürt man es immer wieder: das Künstlerherz, welches in seiner Brust schlägt. Handwerk und Gestaltung kommen vor Verkauf und Administration. Die Werkstatt vor dem Büro. «Es gibt in unserer Branche ein Auftreten, das ich nicht verantworten kann.» Mit Grabsteinen in allen Grös­sen und Formen werben Steinbildhauer in Katalogen oder per Telefon noch vor dem Dreissigsten. «Unerhört», findet Thomas Heini. «Es mag schlecht für mein Geschäft sein, aber da mache ich nicht mit.»

Nicht mit dem Computer

Zurück zu «So entsteht ein Grabstein»: Insgesamt ein bis zwei Wochen Arbeit steckt dahinter. Nach dem Besuch in der Werkstatt liegt die Entscheidung beim Kunden. Meldet er sich wieder, wird skizziert. Zehn bis fünfzehn Entwürfe eines möglichen Grabsteins. Nicht mit dem Computer – von Hand.

Auch das: eine bewusste Entscheidung. «Es ist qualitativ und gestalterisch einfach eine andere Qualität.» Auf die Skizze folgt ein kleines Gips- oder Tonmodell des Grabmals. Die Zeichnung wird vergrössert, auf den Stein übertragen. Strich für Strich für Strich. Erst dann beginnt die eigentliche Bildhauerei.

Eine Ruhestätte

Der Pamir verdeckt die Ohren, der Atemschutz den Mund. Mit Hammer und Meissel bearbeitet Linus Mattmann – Schlag für Schlag für Schlag – die Steinoberfläche. Mit jeder Handbewegung gibt er sein Bestes. Denn Mattmann weiss: Unter diesem Stein wird ein geliebter Mensch ruhen. Vor diesem Stein werden Angehörige Tränen vergiessen. Und irgendwann Trost finden.

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