Grosswangen In den sozialen Medien zeigten sie sich in feinen Anzügen nebst fetten «Schlitten»: ein Dutzend Grosswanger, die Blaubeersaft verkauften und weitere Verkäufer anwarben. Netzwerkmarketing nennt sich das. Macht dieses System wirklich so frei und reich wie gepriesen wird?
 

Sie sitzt mitten in einer saftig-grünen Wiese, die Arme gegen den Himmel gestreckt, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln. Zu dem Foto auf Facebook schreibt sie: «Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum!» Er sitzt in einer Lounge, die Krawatte gelockert, der Sekt auf dem Tisch kalt gestellt. Dazu schreibt er: «Alles ist möglich, du musst nur an dich glauben!» Sie und er haben etwas gemeinsam: Sie haben sich selbständig gemacht. Verkaufen Tupperware. Oder Schminkzeug. Oder Nahrungsergänzungsmittel. Die Produkte stammen von Unternehmen mit Namen wie Forever Living, Mary Kay, Juice Plus, Kyäni… Aber wie auch immer sie alle heissen: Es scheint ihnen auf jeden Fall maximales Glück, absolute Freiheit und viel Geld zu bescheren – so ganz nebenbei, ohne viel dafür tun zu müssen. Verlockend also, wenn man plötzlich eine private Nachricht von ihm oder ihr bekommt: «Hey, du siehst sympathisch aus. Wie geht es dir? Ich frage deshalb, weil ich noch nie glücklicher war. Mir geht es so super! Ich habe mich selbständig gemacht und arbeite für ein tolles Business mit super Produkten. Ich bin absolut flexibel, kann von zu Hause aus arbeiten und verdiene nebenberuflich einen guten Lohn. Wenn du auch interessiert bist, kannst du gerne mal an einen Anlass mitkommen. Die ganze Sache ist natürlich absolut unverfänglich!»

Die Lounge Night in Sursee

Diese «unverfängliche Sache» nennt sich im Fachsprache Netzwerkmarketing auch Multilevelmarketing (MLM), Empfehlungsmarketing oder Strukturvertrieb. «Am Anfang war die Euphorie riesig», sagt Samuel * aus Grosswangen. Der 22-Jährige trat vor rund einem Jahr einer Netzwerk-Marketingfirma namens Kyäni ** bei. Ein Unternehmen, das hier stellvertretend für andere näher beleuchtet werden soll. Ein guter Freund hatte ihn auf eine «Lounge Night» in Sursee aufmerksam gemacht, ohne genau zu sagen, um was es sich handelt. «Er war absolut begeistert und meinte, das müsse ich mir anhören.» Als Samuel vor rund einem Jahr bei besagtem Treffpunkt ankam, war er fasziniert – «überall standen die geilsten Autos angeschrieben mit Kyäni». Er musste sich anmelden, seinen «Sponsor» (denFreund, der ihn mitgenommen hat) nennen und 10 Franken Eintritt bezahlen.

Die meisten Anwesenden waren zwischen 18 und 25 Jahren alt. Ihnen wurde ein kurzes Video über das Unternehmen gezeigt: «Zu sehen waren glückliche Menschen an grossen internationalen Anlässen überall auf der Welt, aufheiternde Musik wurde dazu abgespielt», sagt Samuel. Anschlies­send gab es Vorträge. Zuerst zu den drei Produkten von Kyäni. Die Kraft der wilden Alaska-Blaubeere mache ihre Nahrungsergänzungsmittel einzigartig, hiess es. Danach wurden die Anwesenden über Netzwerkmarketing informiert. «Die Stimmung war extrem positiv, die Rhetorik der Vortragenden super», sagt Samuel. Nach dem Abend war er überzeugt: «Das Geschäftsmodell funktioniert.»

Verwandte einspannen

Um in das Business einzusteigen, hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder er kaufte sich eine Lizenz für 80 Franken oder ein Produkte-Paket im Wert von 200 bis über 1000 Franken, Lizenz inklusive. Samuel entschied sich für Letzteres. Er gab etwas über 1000 Franken aus. «Das machten die meisten so, das war normal.» Danach war er per sofort «Unternehmer». Anforderungen an jene gab es keine, weder Abschluss noch Berufstätigkeit waren massgebend. Klar und deutlich hingegen war: Nur die drei Nahrungsergänzungsmittel zu verkaufen, reichte nicht aus, um wirklich zu verdienen. Geld machte derjenige, der weitere «Vertriebspartner», sprich Verkäufer, anheuern konnte. Erst dann gab es Provisionen.

Bevor sie für ihren Lebensstil in den sozialen Medien warben, wurden erstmals die Verwandten und engsten Bekannten eingespannt. So waren in Grosswangen gemäss Samuel auf einmal mindestens ein Dutzend Personen aktiv für Kyäni.

Kritik ist nicht angebracht

«Ich konnte das Wort Kyäni nicht mehr hören, das ganze Tamtam ging mir richtig auf die Nerven!», sagt Leon *. Der Grosswanger ist der Bruder eines Kyäni-Unternehmers. «Es kamen alle diese jungen Männer und Frauen in Anzügen zu uns nach Hause, um irgendwelche Meetings abzuhalten, sie telefonierten und diskutierten, es war mir einfach zu viel.» Für Leon war ein Beitritt nie ein Thema. «Schnelles Geld mit fragwürdigen Produkten – ich fand das ganze Unterfangen ziemlich unrealistisch.» Kritische Fragen von Leon seien unbeantwortet geblieben: «Mein Bruder war wie gefangen in seiner Euphorie, er wollte nichts nur annähernd Kritisches hören.» Stattdessen habe er alles auf die Karte Kyäni gesetzt und ständig davon gesprochen, wie viel Geld er verdienen könne, wenn er aufsteigen würde.

Bonus-Checks und Anstecker

Aufsteigen, was heisst das? «Jade, Pearl, Saphire, Diamond…, bei Kyäni gab es verschiedene Abstufungen», erklärt Samuel. Holte er in einem Monat genug neue Partner und/oder verkaufte viele Produkte, bekam er dafür Punkte. Bei einer gewissen Punktzahl sei er aufgestiegen und habe je nachdem Bonuszahlungen erhalten. Die Beförderung war jedoch vorerst einmalig – im nächsten Monat musste die Punktzahl wieder erreicht werden, um auf der Stufe zu bleiben. «Als ich den «Saphire» geschafft habe, bekam ich einen Anstecker für an den Anzug und konnte mit auf Mallorca an einen Weiterbildungskurs.» Klingt nach schnellem Geld und exklusiven Reisen? «Nein. Genau solches Denken führt zu grossen Enttäuschungen», sagt Samuel. «Die Arbeit dahinter sieht niemand.»

Das ist es auch, was er an Kyäni kritisiert: An den Anlässen seien immer offiziell Bonus-Checks übergeben worden, mit zum Teil riesigen Summen. «Als Anfänger bekommst du da völlig absurde Erwartungen.» Obwohl er nach wie vor vom Modell des Netzwerkmarketings überzeugt ist, findet er: «Es wird zu viel über Geld und zu wenig über Arbeit gesprochen.» Und diese sei enorm gewesen: Einmal pro Woche trafen sich die Partner aus der Umgebung, entwickelten Pläne und Strategien, einmal im Monat gab es einen Event mit allen Kyäni-Unternehmern in der Schweiz. Daneben galt es möglichst viele neue Leute anzuwerben und die Produkte zu verkaufen. «Es ist wie überall im Leben: Der Erfolg bedingt Disziplin und Durchhaltevermögen», sagt er. Beides fehlte dem Dutzend Grosswanger: Rund ein Jahr nach dem Beitritt ist heute niemand mehr aktiv dabei. «Die Euphorie ist verflogen», sagt Samuel. An und für sich sei das nichts Tragisches: «Ich habe ja nichts verloren.» Samuel hat einen Lehrabschluss und arbeitete stets zu hundert Prozent. «Andere haben ihre Ausbildung dafür hingeschmissen – das rate ich niemandem», sagt er.

Kein Sklave des Systems?

Den Hintergrund von schönen Facebook-Posts muss man sich also eher so vorstellen: Er liegt auf Mallorca an einem Pool, das Wasser glitzert, die Sonne scheint. Sobald das Foto im Kasten ist, geht er in die Hotellobby, lädt es bei Facebook hoch. Schreibt dazu: «Ich lebe meinen Traum, weil ich kein Sklave des Systems mehr sein wollte.» Danach geht er seine Kontakte durch. Allen Bekannten hat er bereits geschrieben, zum Teil mehrmals. Einige sind dabei: Sie verkaufen auch Blaubeersaft. Oder Lippenstift. Oder Tupperware. Die anderen weigern sich. Doch will er auf seiner Stufe bleiben, ist er auf neue Partner angewiesen. Also schaut er sich in den sozialen Medien nach neuen Kontakten um, schickt seine Standardnachricht: «Hey, wie geht es dir? Ich frage deshalb, weil ich noch nie glücklicher war…»

Anmerkungen der Redaktion:

* Pseudonym, Namen der Redaktion bekannt.

** Dem hier genannten Unternehmen Kyäni soll die Rechtmässigkeit nicht abgesprochen werden. Das Geschäftsmodell steht für viele weitere Multilevel-Marketingsysteme. Hier im Bericht wird Kyäni genannt, weil das Unternehmen in der WB-Region besonders aktiv war.

"Nicht zu unterschätzen"

Infosekta Freiheit, Selbstverwirklichung und Erfolg: Unternehmen wie etwa Kyäni versprechen mehr als nur einen Job. Sie erschaffen ein eigenes System. Gemäss Susanne Schaaf, Expertin für Sektenfragen und Leiterin der Fachstelle Infosekta kann das heikel werden.

Frau Schaaf, kennen Sie Kyäni?

Ja. Allerdings haben wir bei Infosekta noch nicht viele Anfragen zu Kyäni erhalten. Häufiger sind Anfragen zu Forever Living Products. Das Unternehmen arbeitet wie Kyäni mit Multi-Level-Marketing und verkauft ebenfalls Gesundheits- und Wellness­produkte. Die Systeme sind vergleichbar.

Sind bei diesen Systemen sektenhafte Strukturen zu erkennen?

«Sekte» ist ein Reizwort. Viele denken dabei an Scientology oder Zeugen Jehovas. Dabei gibt es viele Graubereiche, welche zwar nicht strafrechtlich relevant sind, aber trotzdem problematisch und daher nicht unterschätzt werden dürfen. Anhänger solcher Multi-Level-Marketingsysteme können Erfahrungen machen, die an sektenhafte Systeme erinnern.

Zum Beispiel?

Am Anfang herrscht eine grosse Euphorie. Diese wird zum Teil durch offensive Werbestrategien gefördert. Filme und Fotos vermitteln einen gesunden Lebensstil, Zusammenhalt und Luxus, die Arbeit rückt in den Hintergrund. Mit der Zeit kann man ineinen regelrechten Sog geraten: Hoffnung aufs rasche Geld und Anerkennung, denbisherigen «Job im Hamsterrad» an den Nagel hängen, neue coole Freunde, dafür mehr Abstand zum bisherigen Freundeskreis, der mit kritischen Fragen nervt. Die Aufbruchsstimmung kann aber un- merklich in eine emotionale und finanzielle Sackgasse führen.

Spielt Elite-Denken eine Rolle?

Ja, das ist bei vielen Netzwerk-Marketing-Unternehmen zu beobachten: Den Vertreibern wird vermittelt, dass sie quasi zu «den oberen 10 000» (Amway) gehören, für eine grossartige Sache arbeiten und dafür mit Erfolg belohnt werden.

Und wie ist es  in Wirklichkeit?

Die Erfahrung mit solchen Unternehmen zeigt: Die Bilanz ist nicht so rosig. Das bestätigt auch ein Bericht der Federal Trade Commission aus dem Jahr 2017: Die meisten Teilnehmer verdienen wenig oder verlieren sogar Geld.

Angenommen eine gute Freundin beginnt, bei einem solchen Unternehmen zu arbeiten. Wie soll ich reagieren?

Es kommt darauf an, wie begeistert die Person bereits ist. Bei fortgeschrittenem Engagement bringt es meistens nichts, mit frontaler Kritik einzufahren. Kritik wird als persönlicher Angriff erlebt, das führt zu Streit und Rückzug. Besser sollten Sie versuchen, der Freundin mit Respekt zu begegnen, Fragen zu stellen, auch dosiert kritische. Sie können sich auch Unterstützung bei einer Beratungsstelle holen. 

"Sehr vorsichtig sein"

SECO Wann ist die Grenze von einem Multi-Level-Marketingsystem zu einem Schneeballsystem überschritten? Der WB fragte beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) nach. Gemäss SECO sind Schneeballsysteme dadurch charakterisiert, dass derAbnehmerin oder dem Abnehmer Vorteile erwachsen, die weniger im Verkauf einer Ware oder Dienstleistung liegen, als vielmehr in der Anwerbung neuer Personen als Teilnehmende im System.

So grenzen sich die Systeme ab

Die Abgrenzung von legitimen Multi-Level-Marketingsystemen gegenüber illegalen Schneeball/Pyramidensystemen fällt nicht immer leicht. Während bei Schneeballsystemen primär das Erwerben neuer Teilnehmer im Vordergrund steht, wird beim seriösen Network-Marketing ein tatsächlich marktfähiges Produkt vertrieben.

Das kann typisch für ein Schneeballsystem sein

Ein weiteres typisches Merkmal von illegalen Schneeballsystemen liegt darin, dass diese zumeist so angelegt sind, dass sich die Zahl der Teilnehmer schnell und unkontrollierbar erhöht. Weitere Kriterien: Die Teilnehmenden erhalten einen vermögensrechtlichen Vorteil für die blosse Anwerbung von neuen Personen, müssen eine beträchtliche Eintritts­investition leisten und haben kein Recht, die nicht verkauften Produkte gegen Erstattung des Erwerbspreises zurückzugeben. Typisch für ein Schneeballsystem kann auch sein, wenn die Struktur des Systems oder die Berechnung der Provisionen intransparent sind, die Produkte nur innerhalb des Systems von Teilnehmenden an andere Teilnehmende verkauft werden können, oder sie aufgrund ihrer Eigenschaften oder der Teilnahmeregeln des Anbieters ausserhalb des Systems kaum absetzbar sind.

Bei schlechtem Bauchgefühl: nicht teilnehmen

Das SECO rät generell, bei solchen Geschäftsmodellen sehr vorsichtig zu sein und bei Zweifeln über die Rechtmässigkeit des Geschäftsmodells oder bereits bei einem schlechten Bauchgefühl an diesem nicht teilzunehmen.

Stellungnahme Kyäni

Kyäni wurde im Text stellvertretend für andere Netzwerk-Marketingfirmen genannt. Trotzdem hat der «Willisauer Bote» dem Unternehmen die direkten und indirekten Vorwürfe zur Stellungnahme vorgelegt.

 
Keine Umsatzvorgaben oder Abnahmepflichten

«Kyäni produziert hochwertige Produkte, sei es Ernährungsprodukte wie auch ein Gesichtspflegesystem, und vertreibt diese Produkte über unabhängige Geschäftspartner», schreibt Kyäni in der Stellungnahme. Für die Geschäftspartner würden keine Umsatzvorgaben oder Abnahmepflichten bestehen.

Dass Erwartungen an das schnelle Geld geschürt würden, sei den «Geschäftspartnern» zuzuschreiben: «In ihrem Eifer mögliche Geschäftspartner zu registrieren, unterliegen einige Geschäftspartner gelegentlich der Versuchung, Behauptungen bezüglich derGewinne aufzustellen oder Zusicherungen hinsichtlich des Einkommens zu machen». Das sei kontraproduktiv, weil neue Geschäftspartner hierdurch schnell enttäuscht werden könnten, wenn ihre Ergebnisse nicht so umfangreich seien oder ihre Ziele nicht so schnell erreicht würden wie die Ergebnisse oder Ziele anderer. «Wie erfolgreich jeder Einzelne ist, hängt von seinem ganz persönlichen Einsatz ab und die Zeit und Arbeit, die er gewillt ist, in sein Kyäni-Geschäft zu investieren».

Auf Basis der Verkäufe an Endverbraucher

Wie ist es mit Bonuszahlungen und Provisionen? «Der Vergütungsplan von Kyäni basiert auf dem Verkauf von Kyäni-Produkten an Endverbraucher». Geschäftspartner würden Boni und Provisionen auf Basis der tatsächlichen Verkäufe von Produkten an Endverbraucher erhalten.

Keine Sekte, ein Wirtschaftsunternehmen

Kyäni distanziert sich von jedem Vergleich mit einer Sekte. Sekte sei eine Bezeichnung für eine religiöse, philosophische oder politische Richtung und ihre Anhängerschaft. «Kyäni ist ein Wirtschaftsunternehmen.»

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