Reto Danuser ist Mitgründer und Leiter des «Café International», einem Integrationsprojekt. Für sein Engagement erhält er heute Abend den Willisauer Anerkennungspreis. Der WB traf sich mit dem Rentner zum Gespräch
Er sitzt alleine da. Pfarreizentrum, Donnerstag, 14 Uhr. Eigentlich würden sie jetzt nach und nach hier eintreffen, sich die Hände schütteln, Stühle verteilen, Kaffee ausschenken, und bald alle hier sitzen, redend, lachend, gestikulierend, fremd und vertraut zugleich. Zwei Stunden lang – und manchmal noch länger – hat das Café International jeden Donnerstag seine Türen geöffnet: «Es soll Kontakte über alle Sprach- und Landesgrenzen ermöglichen und Geflüchteten helfen, sich zu integrieren», fasst Reto Danuser zusammen. Vor knapp zehn Jahren hat er das Integrationsprojekt mitgegründet – und leitet es noch heute. Da der Willisauer diese Woche in den Ferien war, bleiben die Türen des Cafés geschlossen. Das zeigt mehr als viele Worte, wieso der 69-Jährige den Anerkennungspreis der Stadt Willisau entgegennehmen darf.
Vom Gefühl, fremd zu sein
Fremd sein. Reto Danuser kennt das Gefühl. Als der gelernte Koch und jahrelang passionierte Gastronom vor bald 20 Jahren neu nach Willisau kam, kannte er hier ausser seiner Partnerin nichts und niemanden. «Anfangs fühlte ich mich recht einsam», sagt er. «Ich war ein Fremder – und das als gebürtiger Bündner mit gmögigem Dialekt.» Wie das wohl für Menschen sein muss, die weder Sprache noch Kultur kennen?, fragte er sich. «Ich hatte vorher nie mit Geflüchteten zu tun – es war schlicht diese Erfahrung, die mich zu meinem Engagement motivierte.» Die Idee des Integrations-Cafés ist schlussendlich einer Gesprächsrunde des Männertreffs Willisau entsprungen. «Gian, ein migrierter Syrer meinte da: «Einmal im Monat ist zu wenig, lasst uns das öfters machen». Gemeinsam besuchte man das Café International in Luzern. Fazit: «Das wollen wir in Willisau!» Gesagt, getan. Dank der Katholischen Kirche Willisau fand man schnell einen Raum. «Es ist eindrücklich, wie unkompliziert, grosszügig und herzlich wir von der Kirche und bald auch von der Stadt Willisau seither unterstützt werden», lobt Danuser. So konnte 2015 das «willisauer café international», kurz «wici», eröffnet werden – just zur Zeit der grossen Flüchtlingskrise in Europa.
Abseits von verhärteten Lagern
Der interkulturelle Austausch war das Ziel, bald war das Café International jedoch viel mehr als das. «Wir wurden zu einer niederschwelligen Anlaufstelle», so Danuser. Die Menschen kamen mit Formularen, Rechnungen, Briefen, die sie nicht verstanden. Eine Herausforderung: «Ich war schliesslich Koch, nicht Jurist – und was da für Schreiben kamen, von öffentlicher Hand wohlbemerkt, die waren selbst für mich als Deutschsprechender teilweise schwer zu verstehen.» Doch wenn Reto Danuser A sagt, dann sagt er auch B – «und C und D und E…» Heisst: Der Rentner kniete sich in die Materie hinein. «Heute kenne ich das Flüchtlingswesen in der Schweiz doch recht gut.» Was sagt er also zur Asylpolitik hierzulande? Reto Danuser verzieht das Gesicht. Und einmal mehr während dieses Gesprächs sagt er etwas, auf das er sofort hinzufügt: «Schreib das bitte nicht so.» Darauf angesprochen seufzt er. «Ja ich weiss. Das Asylthema ist einfach ein heikles Pflaster.» Er, der die politischen Diskussionen rund um Migration tagtäglich verfolgt, sei heute ziemlich enttäuscht. «Wir haben in der Schweiz gefühlt nur zwei verhärtete Lager, und mit beiden kommen wir nicht weiter.» Es gelte abseits von politischen Extremen Lösungen zu finden. Schliesslich sei das Land bisher immer dank guten Kompromissen erfolgreich gewesen. «Auch ich bin gegen eine Ausnutzung unseres Sozialsystems, da bin ich konsequent», sagt Danuser. Heisst? Wer mit berechtigtem Asylgrund hierherkommt, der soll Deutsch lernen, sich über unsere Kultur informieren und arbeiten.» Kurz: sich integrieren. Doch Integration funktioniere nur gegenseitig: «Man kann doch nicht jammern, dass sich Ausländerinnen und Ausländer nicht integrieren und gleichzeitig nichts dafür tun – das braucht den Willen von beiden Seiten, nur durch Kommunikation können Vorurteile abgebaut werden.» Bekommt ihr Migranten vom Bund wirklich ein Handy geschenkt? Stimmt es, dass ihr Schweizer alle reich seid? «Redet miteinander! Stellt euch die Fragen!», fordert Danuser. Er sei überzeugt: «Von einer erfolgreichen Integration profitieren alle.»
Im Café International wird sich ausgetauscht – egal, welcher kultureller Hintergrund eine Person hat. Foto Chantal Bossard
Das Café als Lichtblick
Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, werden heute in Zentren des Bundes und der Kantone beherbergt. Das war zu Anfangszeiten des Café International noch anders: Damals kamen die Geflüchteten noch in den Gemeinden unter. So auch in Willisau. «Hier waren viele geflüchtete Menschen, die jahrelang auf einen Bescheid warteten. Nicht zu wissen, ob man bleiben darf oder zu denen gehört, die gehen müssen, war für viele sehr belastend.» Hinzu kam, dass damals während des langwierigen Verfahrens keine Erwerbstätigkeit ausgeführt werden durfte. «Für all jene war das «wici» einmal die Woche eine willkommene Abwechslung», sagt Danuser. Um noch mehr «Lichtblicke» zu bieten, wurden Ausflüge organisiert, am Beachvolley-Turnier teilgenommen und gemeinsam den Stadtlauf bestritten. «Die Dankbarkeit für solche Aktivitäten war riesig.» Eine laufende Erfolgsgeschichte im «wici» sei zudem die «Aktion Velo», die vor fünf Jahren ins Leben gerufen wurde. Zusammen mit drei pensionierten Handwerkern werden unter der Leitung von Werner Stalder kaputte Velos im Werkhof wieder funktionstüchtig gemacht und geflüchteten Menschen kostenlos abgegeben.
Deutschkurse und Dankbarkeit
Durch die grosse Glasscheibe des Pfarreizentrums winkt ein Mann. Reto Danuser springt erfreut von seinem Platz auf, öffnet die Tür. «Hoi Gian, heute ist kein Café International – aber komm doch trotzdem herein!» Gian Hoto: Jener Syrer, der sich vor fast zehn Jahren ein Café International in Willisau wünschte. «Er ist das beste Beispiel für gelungene Integration», sagt Danuser. Seit sieben Jahren arbeitet Gian Hoto in einer Käserei, seine Kinder machen eine Lehre. «Das erste Mal aufgefallen ist mir Gian an einer Gemeindeversammlung in Willisau», erzählt Danuser. Bei der Abstimmung habe es geheissen, es sollten alle nicht-stimmberechtigten Personen auf die rechte Seite hocken. «Aufgestanden ist Gian, der einfach von sich aus an die Versammlung kam, weil es ihn interessierte, wie das hier abläuft.» Gian Hoto lacht: «Ja, so macht man das halt», erwidert er. Er wendet sich an Reto Danuser: «Gibst du immer noch Deutschkurse?» Es stellt sich heraus: Der Rentner unterrichtet zweimal die Woche je drei Stunden Deutsch, bis vor Kurzem sogar dreimal in der Woche. Wie die Arbeit für das Café International, so tut er auch das komplett unentgeltlich. Doch hätte Gian Hoto nicht gefragt – Reto Danuser hätte von sich aus nicht davon erzählt. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Selbstverständlichkeit. Doch er gibt zu: «Die Stunden summieren sich.» Zudem lassen ihn die Begegnungen nicht unberührt. «Es sind oftmals grausame Schicksale. Stell dir vor…», er unterbricht sich, schüttelt den Kopf, «…ach was, so was können wir uns hier schlicht nicht vorstellen.» Die Treffen mit den geflüchteten Menschen hätten seine Lebenseinstellung geprägt. «Ich bin demütiger geworden», sagt er. «Was ich hier in der Schweiz habe – das ist nicht selbstverständlich.» Hier geboren zu werden, sei wie ein Sechser im Lotto: «Ich habe nichts dafür geleistet, habe keinen Einfluss darauf, so privilegiert sein zu dürfen. Das ist pures Glück.» Dieses Wissen mache ihn bescheiden.
Die Treffen mit den geflüchteten Menschen hätten seine Lebenseinstellung geprägt, sagt Reto Danuser (rechts im Bild). Foto Chantal Bossard
Anerkennung für Integrationsarbeit
Heute Freitagabend bekommt Reto Danuser den Anerkennungspreis der Stadt Willisau überreicht. «Er wird für sein Engagement zur Förderung der Integration geehrt. Als Gründer und Betreuer des Café International leistet er dazu einen grossen Beitrag in Willisau», schreibt die Stadt in ihrer Mitteilung. «Der Preis ist sehr verdient», findet Gian Hoto. «Das «wici» war für mich ein Wendepunkt – endlich konnte ich in der Schweiz ankommen.» Das Café International habe «grosse Leuchtkraft», für geflüchtete Personen sei es «wie ein sicherer Hafen nach starkem Seegang».
Bei den Worten von seinem Freund lächelt Reto Danuser zufrieden. «Es ist schön, im Leben etwas mit wahrem Wert zu tun», sagt er. Dass er heute den Anerkennungspreis der Stadt Willisau entgegennehmen dürfe, unterstreiche dies nochmals. «Der Preis ist im wahrsten Sinne Anerkennung für das ganze Projekt und die Arbeit von allen Beteiligten.» Einerseits. Anderseits zeige diese Ehrung vor allem eins: «Integration ist wichtig und bekommt den verdienten Stellenwert.»
Reto Danuser wirft einen Blick auf die Uhr – und erschrickt. Bereits zweieinhalb Stunden dauert die Unterhaltung. «Ich könnte noch viel länger reden – Migration ist ein Fass ohne Boden.» Beim Abschied vor dem Pfarreizentrum schweift sein Blick zum Spielplatz neben dem gegenüberliegenden Kindergarten. «Schau, jetzt haben wir stundenlang über verschiedene Lösungsansätze geredet – dabei könnte es so einfach sein.» Vis à vis toben die Kinder. Lachen miteinander. Woher die Eltern ursprünglich kommen? Kümmert hier niemanden.