Hergiswil Sie sieht zwar nichts, ist aber alles andere als blind: Barbara Rubin. Der WB hat sich mit der Hergiswilerin über Hürden und Hochs unterhalten. Über Licht und Schatten.
Barbara Rubin mag die Farbe Pink nicht. Die ist ihr zu klebrig. Erinnert sie an Gummibärchen. An zuckersüsse Cocktails. An Menschen, die falsch lachen. Barbara Rubin lacht laut und gerne. Sie trinkt Bier. Ihre Lieblingsfarbe ist Blau. Denn blau ist der Himmel, wenn Sonnenstrahlen ihre Nase warm kitzeln und blau ist der Bergsee, wenn das Wasser ihr kalt um die Waden schwappt. Barbara Rubin sieht weder Pink noch Blau. Sie sieht seit Geburt gar nichts.
Der Blindenhund im Studio
Und doch weiss sie sofort, dass jemand im Raum ist, obwohl doch die Tür scheinbar lautlos auf und zu geht. Menznauerstrasse 20, Willisau. Hier, über dem Hug-Guetzli-Laden, hat sich Barbara Rubin den Traum eines eigenen Physio-Studios verwirklicht. In der Mitte des lichtdurchfluteten Raums steht gross ein Trampolin, am Rand stapeln sich Gewichte, Bälle, Trainingsmatten. «Hallo?», fragt sie. Fast könnte man sie übersehen, wie sie da versunken hinter dem Schreibtisch in der Ecke sitzt, den Laptop vor der Nase. Später wird sie dann erklären, wie sie ihre E-Mails hört anstatt liest und welches System es dazu braucht. «Ich bin gleich so weit, einen Moment noch.» Vom Klang ihrer Stimme geweckt, hebt der schwarze Blindenhund auf der Decke vor dem Pult für einen kurzen Moment seinen Kopf, um gleich darauf wieder weiterzuschlafen. «Keanu ist sich Besuch gewöhnt», sagt Rubin, die sich nun ihrerseits erhebt.
Die richtige Kaffeemaschine
Ihre Augen gucken in verschiedene Richtungen. Wäre diese Tatsache nicht, man würde wahrscheinlich nicht auf Anhieb merken, dass Barbara Rubin nichts, rein gar nichts, sieht. Erst beim genaueren Hinsehen fällt die Hand auf, die sich zuerst am Pult entlangtastet und danach die Becher neben der Kaffeemaschine sucht. Bald darauf stehen die Pappbecher auch schon auf dem Besuchertisch, Kaffeeduft erfüllt den Raum. «Endlich richtig guter Kaffee», sagt Rubin, während sie sich auf dem Stuhl vis-à-vis niederlässt. Lange hat sie nach der richtigen Kaffeemaschine gesucht, eine ohne Kapsel – «so viel Abfall!» – und ohne viel technischen Schnickschnack wie Touchscreen. Im Mediamarkt wollten sie ihr ihre Wunsch-Maschine ausreden, zu schwierig, zu mühsam sei das für eine blinde Frau. «Als ob ich nicht selbst ganz genau wüsste, was ich kann und was nicht!»
Ein Blick zurück
Lernen musste sie es auf harte Tour. Als sie vor 43 Jahren bei ihrer Geburt zum ersten Mal die Augen aufschlägt, da ist die Welt um sie herum schwarz. Fast schwarz. Ab und zu – da ist sie sich auch heute noch sicher – sieht sie Sonnenlicht. Das lässt sie sich von niemandem abstreiten, auch nicht von all den Ärzten, die ihr widersprechen. Lebersche Amaurose, teilen diese den Eltern nach der Geburt mit, eine sogenannte «Funktionsstörung des Pigmentepithels der Netzhaut mit degenerativen Erscheinungsformen der Aderhaut», erklären sie. Für Barbara Rubin ändern diese Bezeichnungen erstmal nichts. Dass sie nicht sieht, was andere tun, das begreift sie erst Stück für Stück in der Kindheit auf einem Bauernhof in Gimmelwald bei Mürren, einem 90-Seelen-Bergdorf im Berner Oberland. Während andere Fangis spielen, lernt sie sich im Raum zu orientieren. Oben, unten, links, rechts, gross, klein einzuschätzen. «Und dann drehte ich mich einmal im Kreis und schon wusste ich wieder nicht mehr, wo ich war.» Und vor allem nicht, wieso das so war. «Wegen deinen Augen,» sagen sie ihr. «Aber die tun mir doch gar nicht weh», antwortet sie. Statt rumzuspringen, versucht sie nicht umzufallen. Immer und immer und immer wieder. Doch sie kann sich noch so beweisen, bald ist klar: Hier, wo die Hänge steil, die Leute konservativ und die freien Minuten knapp sind, kann das spezielle Kind nicht bleiben.
Eine gruusige Zeit
6.30 Uhr: aufstehen, anziehen, Duvet über den Stuhl hängen. 6.50 Uhr: Frühstück – aber erst damit beginnen, wenn alle am Tisch sitzen. 7.10 Uhr: Zähne putzen, Bett fertig machen, Ämtli erledigen. 7.30 Uhr: aus dem Wohnblock in die Schule – keine Minute vorher oder nachher. 7.40 Uhr: eintreffen in der Schule. 7.45 Uhr: die Ordner des entsprechenden Fachs müssen auf dem Tisch liegen, bereit für den Unterricht. «Militärisch» beschreibt Barbara Rubin ihre Jahre im Blindenheim Zollikofen. Etwas, das dem hyperaktiven – «heute würde man mir wohl ADHS diagnostizieren» – Mädchen gar nicht passt. Redet sie heute vom Internat, nimmt ihre Stimme einen energischen Tonfall an, die Hand auf dem Tisch ballt sich zur Faust und über das sonst so freundliche Gesicht legt sich ein Schatten. Man merkt: Nur ungern macht sie diese Schublade in ihren Erinnerungen wieder auf, und nur ein Bruchteil davon erzählt sie. «Es war eine gruusige Zeit, die schlimmste bisher.» Als sie mit 16 Jahren aus der Schule kommt, ist für sie deshalb klar: Hier will sie unter gar keinen Umständen bleiben. Anstatt ebenfalls in Zollikofen, wie es eigentlich üblich wäre, macht sie das Abitur in einer Spezialschule für Sehbehinderte im deutschen Marburg. Dort, ganz weit weg von ihrem alten Leben, fühlt sie sich zum ersten Mal richtig frei.
«Fadegrad» durchgezogen
Diese Freiheit trägt sie seither stets im Herzen mit. «Einschränken lasse ich mich nicht nochmals», sagt Barbara Rubin. Selbstbewusst – das ist sie. Sie weiss, was sie will und zieht durch, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Trotz allen Widerständen. So schliesst sie 2002 die Physiotherapieausbildung im Universitätsspital Zürich ab. Anschliessend gelangt sie durch ein Stelleninserat von dem Willisauer Physiotherapeuten
Philipp Estermann ins Luzerner Hinterland. So arbeitet sie in den folgenden Jahren in Willisau, Hergiswil und im Entlebuch, bis es sie schlussendlich unter den Fingernägeln juckt, nochmals etwas Neues zu probieren. Etwas ganz Neues: 2010 wagt sie sich an ein Jurastudium an der Universität Luzern. «Wie man als Anwalt für Gerechtigkeit sorgen kann, hat mich schon immer fasziniert», erklärt sie den Sinneswandel. Und «fadegrad» zieht sie auch dieses Studium durch – innerhalb von den gegebenen fünf Jahren hat sie den Master im Sack. In der Praxis muss sie jedoch bald merken, dass sie weder die Ausdauer noch die Motivation besitzt, sich stundenlang mit Akten zu befassen. «Ich arbeite einfach viel lieber mit Menschen als mit Papierbergen.» Dieser Gedanke führt sie schlussendlich zurück zu ihrer Leidenschaft: der Physiotherapie.
Auf das Handy gezwungen
Die Vielseitigkeit. Das ist es, was Barbara Rubin ganz besonders an ihrem Beruf fasziniert. Verschiedene Ausgangslagen, verschiedene Anliegen von verschiedenen Menschen. «Ich mag die Abwechslung, die mir dieser Beruf bietet.» Zwar sieht sie nicht, wie jemand steht und geht, jedoch hört und fühlt sie vieles, was andere Kollegen weniger beachten. Was sie am Beruf nicht mag? «Der Bürokram, mit dem ich seit meiner Selbstständigkeit zu kämpfen habe!», sagt sie und lacht. Zwar klappt auch das dank Sprachprogramm, doch immer öfters machen ihr Systemupdates das Leben schwer. «Die Technik entwickelt sich so rasant, dass die Entwickler unserer Sehbehindertenprogramme kaum Schritt halten können.» Geht es um Technik, gerät Rubin rasch ins Fluchen. Nur ungern ist sie digital unterwegs. «Wir Sehbehinderten werden oftmals zum Handygebrauch gezwungen, mit irgendwelchen Apps vertröstet und so weiter.» Ja, die unabhängige Frau mag es gar nicht, sich von etwas abhängig zu machen. «Aber die Welt ist nun mal oft nicht für uns gemacht, so ist das halt.»
Nicht aufgeben lohnt sich
Nichtsdestotrotz: Barbara Rubin findet sich gut zurecht in dieser Welt. Sie beansprucht ihren Platz darin mit bewundernswerter Hartnäckigkeit. So etwa, als sie als Fremde nach Hergiswil kommt. Sie spürt die schrägen Blicke der Einheimischen auf sich, kann die Gesichtsausdrücke erahnen, die stets zu fragen scheinen, was denn sie für eine ist. Mit Keanu am Führgeschirr stellt sie sich diesem Dorfleben, geht extra alleine ins Restaurant Alpenrösli, bestellt sich ein Bier, redet mit den Leuten. Immer und immer wieder, bis sie dazu gehört. «Heute lassen die Hergiswiler das Autofenster runter, wenn sie mich und Keanu am Fussgängerstreifen sehen.» Sie rufen ihr zu, wenn sie die Strasse überqueren kann, weil sie wissen, dass bei ihr alles Gewinke die Wirkung verfehlt. «Das ist ein tolles Gefühl.» Zu sagen hätte sie das nicht gebraucht: Die Lachfalten, die sich um ihre Augen herum bilden, sprechen für sich. «Wissen Sie, es bestätigt meine Einstellung zum Leben.» Heisst? «Es lohnt sich, nicht aufzugeben.»