Der Totenkopf scheint mich anzustarren. Das Blut, welches ihm aus den Augen rinnt, bildet einen See, aus dem Schlangen kriechen. Menschenfressende Schlangen, begreife ich, als ich den Knochenberg sehe. Noch immer starrt der Totenschädel. Schnell schaue ich weg. Weg vom Tattoo auf dem muskelbepakten Oberarm, mitten ins Gesicht meines Gegenübers. Eine Narbe zieht sich von seiner rechten Schläfe über die Wange und verschwindet im ungestümen Bart. Piercings in Lippen, Wangen, Ohren, überall. Schwarze Kleidung. Springerstiefel bis zu den Knien.

18.38 Uhr. Noch über eine Stunde bis zur Ankunft in Bern. Noch über eine Stunde in einem Viererabteil mit einem solchen Vis à Vis. Das ist einer, der trinkt seinen ersten Schnaps zum Zmorge, einer, der verhaut Unschuldige zum Zmittag. Das ist einer, der stiehlt sein Znacht. Kurz: furchteinflössend. Der Kontrast zu seiner Sitznachbarin könnte nicht grösser sein: eine ältere Dame im geblümten Seidenkleid. Zusammengesunken sitzt sie da. Die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Wenn sie seufzt, beben ihre zarten Schultern. Und sie seufzt andauernd. Geht es ihr nicht gut?

«Sägid mou, geits Ehne ned eso guet?» Ich zucke zusammen. Der Totenkopftyp! Er spricht! Breitestes Berndeutsch. Sein Blick ist auf die alte Dame gerichtet. Mit schreckensgeweiteten Augen schaut sie ihn an. «Send Sie zwäg?», fragt er sie abermals. Und es stellt sich raus: Nein, es geht ihr nicht gut. Ihr Hans-Peter, «mine Hämpu», liegt krank im Spital. Lungenentzündung, es sieht schlecht aus, sehr schlecht. Als ihr eine Träne über die Wange rollt, da reicht er ihr ein Nastüechli, «aues chond gäng wies muess.» Als ihre Schultern beben, da legt er seine Hand auf die ihre, «eg verstohne». Als sie sagt, wie alleine sie sich fühlt, da reicht er ihr sein Handy, «lüütet doch öbberdem ah.» Sie kramt nach Münz, um den Anruf zu bezahlen. Er sagt: «Löid loh stecke.» Und: «Mängisch muemer gäng nome scho s’Füfi la grad sy.»

Eine Lektion fürs Leben. «S‘ Füfi la grad sy». Den Spruch höre ich zwar nicht zum ersten Mal. Doch erstmals verstehe ich ihn. «S‘ Füfi la grad sy» bedeutet nämlich nicht nur grosszügig zu sein, ein Auge zuzudrücken, etwas zu belassen. Sondern auch: etwas nicht so eng zu sehen. 

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