Ettiswil Zweimal am Tag trinkt Josef «Sepp» Greter seinen Milchkaffee im Landi- Tankstellenshop. Dort erzählt er seine Geschichten. Von seiner Kindheit, von Amerika, vom Schwingen. Der WB hat den Stammgast getroffen.

Die automatische Ladentür öffnet sich. Eisige Luft strömt ins Innere. Von der Kälte des Herbstmorgens in die Wärme des Landi-Topshops. «Es könnte stürmen und hageln – ich käme trotzdem.» Wind und Wetter halten Josef «Sepp» Greter nicht davon ab, Tag für Tag den Ettiswiler Tankstellenshop aufzusuchen.

Sepp Greter mit Zeitung und Milchkaffee im Landi-Topshop. Foto Chantal Bossard

Der Stammgast lacht, richtet seinen Cowboy-Hut auf dem Kopf gerade. Mit schleppendem Gang geht er zielstrebig auf die Kaffee-Ecke zu. Bleibt kurz vor dem Kühlregal stehen, «Bratwürste für die Hälfte, vielleicht heute zum Znacht», murmelt Sepp vor sich hin. Weiter zur Kaffeemaschine. Einen Milchkaffee, wie immer. Solche trinkt der 72-Jährige seit der Eröffnung des Shops zweimal am Tag an der Surseestrasse 15. Ein guter Milchkaffee gebe es hier, betont er. Doch er trinke ihn nur ungesüsst, «sonst ists mir zu kleb­rig». Ungesüsster Milchkaffee. Nicht der einzige Grund, wieso der Ettiswiler von seiner Wohnung in der Langmatte zur Tankstelle pilgert. Er schätze «die freundlichen Kassenfrauen». Die Öffnungszeiten. Das Angebot. Er zieht die Tankstelle der Beiz vor. «Vor allem wegen dem frischen Wind.» Er freue sich auf neue Gesichter.

«Und neue Geschichten.» Beobachtet gestresste Hausfrauen, harte Biker, Lastwagenfahrer von nah und fern. «Hier geht das Leben ein und aus.»

Sie nennen ihn «de Schnorri»

Die Tankstellenbesuche bestimmen Greters Tagesablauf. Morgens um halb neun schultert er seinen Rucksack, setzt den Hut auf und macht sich auf den Weg. Meist zu Fuss. Nur bei «Hodu-Wetter» nehme er den «Rottaler». Am Abend kommt er jeweils mit dem Bus von Sursee her. Dort holt er tagtäglich den «Blick am Abend». Doch gelesen wird die Gratiszeitung um zirka 16 Uhr in der Landi. Unterschiedliche Zeiten, verschiedene Leute: «Am Morgen hat es viele Bauern und Chauffeure, die ein Znüni nehmen. Am Abend treffen sich die Bauarbeiter zum Feierabendbier.» Er nennt sie «die anderen». Diese bezeichnen Sepp kurz und bündig als «de Schnorri». Mit Grund? «Beginne ich zu erzählen, fällt es mir schwer, wieder aufzuhören. Schliesslich habe ich so viele Geschichten in mir.» Gedanken, Anekdoten, Geistesblitze. «Wem soll ich sie sonst erzählen?» Sein Lieblingsthema ist das Schwingen. Gefolgt von der Reise nach Amerika, verbunden mit dem Fernweh nach dem Kontinent in Übersee.

Ein wilder Bursche

Josef Greter, geboren am 13. September 1944, wächst zusammen mit elf Geschwistern auf einem Bauernhof auf der Rigi, Küsnacht, auf. Dort geht er zur Schule, sieben Jahre lang. «Nur ungern», betont er. Er sei «ein wilder Bursche» gewesen. Voller Energie. Egal ob Aufsatz, Diktat oder Rechenprüfung: Dem jungen «Seppi» fällt es schwer, still zu sitzen, sich zu konzentrieren. Sehr zum Ärger seiner Lehrpersonen. Tag für Tag, Schulstunde um Schulstunde büsst der Bauernjunge für seine «zappeligen» Beine und den frechen Mund. Die Strafe: Auf einem Lineal knien und die Schulbücher in die Höhe stemmen. Er habe «mehr Kraft als Grips» gehabt, sagt Sepp und lacht.

Mit vierzehn bricht er die Schule ab. Er knechtet auf einem Gehöft, absolviert das Bauernlehrjahr. Arbeitet mit Ross und Wagen als Leichenführer.

Ein starker Schwinger

Dann folgt die Lehre als Käser. Jetzt hat er es mit «rechten Brocken» zu tun. «So ein Käse kann bis zu 108 Kilogramm wiegen.» Der kräftige Sepp legt durch seine tägliche «Büetz» noch mehr an Muskeln zu.

Seine Oberarme und seine unermüdliche Energie führten ihn anno 1966 zu seiner grossen Leidenschaft, dem Schwingen. Josef Greter gilt bald als einer der Besten in diesem Sport. Bereits im allerersten Wettkampf holt er sich den Kranz. Heute setzt er Fragezeichen hinter den Schwingsport. «Es geht nicht immer mit rechten Dingen zu und her.»

Sepp lehnt sich in seinem Stuhl zurück und nimmt einen Schluck von seinem Milchkaffee. «Schon fast kalt», bemerkt er, «das passiert, wenn ich ins Reden komme.» Normalerweise werde er früher unterbrochen. «Du Schnorri, du versäumst uns mit deinen Geschichten», heisse es dann. «Aber wo bin ich stehen geblieben? Ah, genau – beim Schwingen. Ohne diesen Sport wäre ich nie nach Amerika gekommen.»

Ein unerfüllter Traum

Greters Augen blitzen freudig auf, wenn er von seiner «besten Zeit» berichtet. Am «Eidgenössischen» im Jahre 1969 macht Sepp eine folgenschwere Bekanntschaft. Mit einem Schweizer, der nach Amerika ausgewandert war.

Einige Bier, ein gutes Gespräch, die gleiche Wellenlänge. Was folgt ist eine Einladung nach Übersee. «Zu dieser Zeit waren Auslandreisen eher fremd und die Vereinigten Staaten mehr als exotisch», berichtet Sepp. Nichtsdestotrotz nimmt er die Einladung des flüchtig Bekannten an. Die Folge: ein Jahr Aufenthalt auf dem Kontinent «änet» dem grossen Teich. Das Freiheitsdenken, die endlose Weite und die Kameradschaft bei Country-Musik am Lagerfeuer beeindrucken den jungen Schweizer. «Es war das beste Jahr meines Lebens.» Hätte seine Schwester nicht zur Hochzeit geladen, «so wäre ich nie wieder in die Schweiz zurückgekehrt.» Nach dem Fest ist er wild entschlossen, mit Klauenschneiden das nötige Geld zu verdienen, um möglichst schnell wieder nach Amerika zurückzukehren. Es bleibt beim Traum. Sepp zertrümmert sich beim Schwingen das Knie. Muss die Operation abwarten. In dieser Zeit verliebt er sich, gründet eine Familie mit drei Kindern. Er wird sesshaft. Sepp verdient 40 weitere Jahre sein Brot als Klauenschneider.

Mitten im Leben

Geblieben ist die Sehnsucht nach dem fernen Kontinent. «Und natürlich meinen Cowboy-Hut», sagt er und zieht diesen tiefer. «Was nützt es, in der Vergangenheit zu stochern?», fragt Sepp und bemerkt: «Ändern kann ich nichts mehr.» Das sei mit ein Grund, weshalb er gerne in den Landi-Tankstellenshop komme. «Ich erzähle hier zwar oft von Vergangenem, werde aber stets wieder an die Gegenwart erinnert.» Etwa wenn er die gestressten Hausfrauen beobachtet, wie sie eiligst eine vergessene Kuchenzutat besorgen. Wenn die Bauern am Nebentisch besorgt über den Milchpreis diskutieren. Oder wenn er halt mal wieder hart mit «sei ruhig, Schnorri, du versäumst uns» unterbrochen werde. «Dann weiss ich: Ich stehe noch mitten im Leben.» Sepp erhebt sich, trinkt den letzten Schluck Milchkaffee. Bevor der warmherzige Stammgast in die Kälte tritt, dreht er sich noch einmal um: «Auf Wiedersehen.»

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